Schummel-RDKS oder RDKS-Schummel?

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Vermeintliche wie echte Skandale eigenen sich in der Regel gut dafür, um in deren Fahrwasser Aufmerksamkeit für ein eigenes Anliegen zu generieren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den ADAC-Betrug rund um die Wahl des Lieblingsautos der Deutschen, nach dessen Bekanntwerden gleich zweimal nacheinander – letztlich erfolglos – der Versuch unternommen wurde, auch die Reifentests des Klubs in einem negativen Licht erscheinen zu lassen. Ein ähnliches Muster ist nun um Zuge des VW-Dieselskandals mit Blick auf vorgeblich schummelnde indirekte Reifendruckkontrollsysteme (RDKS) zu erkennen. Denn Letzteres hat die in Bezug auf Umweltthemen auf europäischer Ebene engagierte Organisation Transport & Environment (T&E) jüngst behauptet, zu der hierzulande die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) als Mitglied zählen.

Bei entsprechenden Tests mit einem Fiat 500L und einem Siebener-Golf von Volkswagen hätten die dort jeweils verbauten indirekten, also auf der ABS-Infrastruktur aufbauenden und keine tatsächlich messenden Drucksensoren vorhaltenden Systeme in einem Großteil der je Fahrzeug 16 Versuchsreihen versagt, heißt es. Mit Blick auf die mitunter auch „Dieselgate“ genannte VW-Abgasaffäre werden auf indirekte RDKS setzende Fahrzeughersteller seitens T&E gleich unter Generalverdacht gestellt, sie würden die verbauten Systeme unter Umständen gar vorsätzlich manipulieren, damit sie zwar das offizielle ECE64-Testprozedere in Sachen RDKS bestehen, aber im tagtäglichen Einsatz den Autofahrer nicht mit Fehlalarmen nerven. Zumal bei den eigenen, bei der unabhängigen spanischen Testeinrichtung IDIADA in Auftrag gegebenen Versuchsreihen das Vorgehen gegenüber dem ECE64-Protokoll jeweils leicht modifiziert wurde, um so praxisrelevantere Szenarien abzubilden.

Sollte an den Anschuldigungen etwas dran sein, wäre das in der Tat starker Tobak. Allerdings werfen die T&E-Tests bei näherem Hinsehen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Denn bei sechs der je 16 Versuchsreihen bei den beiden Fahrzeugen wurden die indirekten Reifendruckkontrollsysteme ganz bewusst falsch und entgegen der Anleitung im Bordbuch bedient. So gibt das Handbuch etwa für den VW Golf VII dem Fahrer ganz klar die Anweisung, den korrekten Druck in den Reifen sicherzustellen und das System damit dann per Tastendruck zu initialisieren. Hintergrund: Bei indirekten Systemen wird über Abweichungen vom bisherigen Abrollumfang und damit die vom ABS detektierten Raddrehzahlen auf einen etwaigen Fülldruckverlust geschlossen, wobei das Steuergerät ab einer bestimmten Varianz eine Warnung ausgibt. Geht man allerdings so vor wie T&E bei den jeweils zweimal wiederholten und in den Testprotokollen mit „D-06“, „M-01“ und „M-02“ bezeichneten Versuchsreihen, dann können indirekte Systeme dabei gar keine Abweichung feststellen.

 

Zumal beispielsweise bei dem mit Reifen der Größe 205/55 R16 ausgerüsteten Golf von vornherein ein auf 1,4 bar gesenkter Fülldruck in einem oder mehreren Reifen anstelle des eigentlichen Sollwertes von 2,2 bar eingestellt sowie danach dieser viel zu niedrige Druck dem System als korrekt übergeben wurde. Laut T&E hat das indirekte RDKS in dem VW bei den insgesamt 16 Testreihen – acht Szenarien mit zwei Wiederholungen – in nur vier Fällen angeschlagen, zehnmal gar nicht und zweimal verspätet. Das entspräche einer Fehlfunktionsquote von immerhin 75 Prozent. Streicht man nun allerdings die drei oben genannten Szenarien bzw. sechs Testreihen, bei denen eine eindeutige Fehlbedienung des Systems vorliegt, dann verbleiben eigentlich nur noch vier Fälle ganz ohne und die beiden mit verspäteter Warnung, was einem immerhin nur halb so großen Fehlfunktionsanteil entspricht. Man weiß jetzt nur nicht, was schlimmer ist: Dass offenbar tatsächlich Hinweise darauf verbleiben, dass die Systeme vielleicht wirklich nicht immer so funktionieren, wie sie sollen, oder dass T&E mit Vorsatz scheinbar Messergebnisse hat produzieren lassen, um die Systeme gezielt in Misskredit zu bringen.

Nicht wenige Technikexperten, mit denen die NEUE REIFENZEITUNG diesbezüglich gesprochen hat, äußerten sich denn auch in dem Sinne, dass sich beinahe der Eindruck aufdrängt, als versuche hier die Fraktion der Anbieter direkt messender, also sensorbasierter RDKS ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Obwohl so etwas nur schwerlich vorstellbar ist, T&E seine Unabhängigkeit betont und auf Nachfrage dieser Fachzeitschrift mitteilt, die Testreihen selbst finanziert zu haben, bleibt dennoch ein äußerst fader Beigeschmack. Denn wer ein System wissentlich falsch bedient, um unter anderem basierend darauf dann Fahrzeugherstellern vorzuwerfen, indirekte RDKS allein aufgrund der Kostenersparnis zu verbauen bzw. zu manipulieren, damit sie zwar den Zulassungstest bestehen, nicht aber in der Praxis, hat schon im Vorwege viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Selbst wenn tatsächlich etwas an den T&E-Vorwürfen dran sein sollte, hätte die Organisation mit ihrer – zumindest zum Teil – fragwürdigen Durchführung der Versuche dem Ganzen einen ziemlichen Bärendienst erwiesen.

Wer käme schließlich auf die Idee, Fahrzeugherstellern die Schuld daran zu geben, wenn Autofahrer den Sicherheitsgurt nicht anlegen, obwohl moderne Autos heutzutage entsprechende akustische und optische Hinweise geben? Bei der Homologation werden die entsprechenden Warnsysteme sicherlich überprüft, doch wenn der Fahrzeuglenker alles Gepiepe und Geleuchte wissentlich ignoriert, ist sie oder er halt selbst Schuld, wenn es bei einem Unfall zu Verletzungen oder gar Schlimmerem kommt. Vor diesem Hintergrund hat die NEUE REIFENZEITUNG zu ergründen versucht, warum besagte drei Testreihen durchgeführt wurden, bei denen ein indirektes RDKS prinzipiell gar keinen Alarm schlagen kann, weil ein Reset des Systems bei schon falschem Reifenfülldruck erfolgte. Dies sei eine Situation, die in der tagtäglichen Praxis sehr schnell vorkommen könne, begründet Julia Poliscanova, Manager Clean Vehicles & Air Quality bei Transport & Environment, den gewählten Ansatz bei den fraglichen drei Versuchsreihen („D-06“, „M-01“, „M-02“).

Als eine der möglichen Ursachen, warum indirekte RDKS trotz korrekter Initialisierung des Systems durch den Fahrer bei zu wenig Fülldruck keinen Alarm geben, werden unter anderem defekte bzw. nicht die richtigen Druckwerte anzeigende Füllgeräte an Tankstellen genannt

Als eine der möglichen Ursachen, warum indirekte RDKS trotz korrekter Initialisierung des Systems durch den Fahrer bei zu wenig Fülldruck keinen Alarm geben, werden unter anderem defekte bzw. nicht die richtigen Druckwerte anzeigende Füllgeräte an Tankstellen genannt

„Wenn sie ein Auto kaufen, werden Fahrer zu dem Glauben verführt, dass sie – weil die Ausstattung ihres Fahrzeuges mit RDKS vorgeschrieben ist – sicher sind und sie sich in Bezug auf den Fülldruck in ihren Reifen nicht viel Sorgen machen müssen“, sagt sie. Und da sich eben ein System darum kümmere, würden sie selbstzufrieden. Dabei gebe es viele Gründe, warum ein Fahrzeugbesitzer gerade eben nicht den korrekten Solldruck in seinen Reifen eingestellt habe. In diesem Zusammenhang verweist Poliscanova auf defekte bzw. nicht die richtigen Druckwerte anzeigende Füllgeräte an Tankstellen, fehlendes Wissen, welches überhaupt der korrekte Fülldruck ist, oder durch die Verwendung verschiedener Einheiten für den Druck (bar, psi, kPa etc.) entstehende Missverständnisse. „Nicht jedermann ist technisch versiert oder ein Autoenthusiast, und viele Fahrer lesen nicht mal dessen Bedienungsanleitung, bevor sie ihr Auto benutzen. Im wirklichen Leben prüfen Autofahrer nicht regelmäßig den Fülldruck ihrer Reifen und rekalibrieren ihr RDKS dann – beispielsweise bei angemieteten Fahrzeugen“, gibt sie zu bedenken.

„Wir trauen Autofahrern ja auch nicht zu, ihr ESP, die Airbags oder die Bremsen zu kalibrieren, da wir wissen, wie wichtig diese Dinge für die Sicherheit im Straßenverkehr sind“, begründet Julia Poliscanova, warum der Einfluss des Faktors Mensch bei alldem minimiert werden sollte. Rund um indirekte RDKS gebe es aber keine Art von „Sicherheitsnetz“, während die T&E-Tests zeigten, dass es nötig wäre, weil die Systeme ihrer Meinung nach „nicht funktionieren“. Diese Position hat sich im Übrigen auch der Automobilclub Europa (ACE) zu eigen gemacht, spricht man dort augenscheinlich nicht nur mit Blick auf die jüngsten T&E-Erkenntnisse von Systemen, auf die „kein Verlass“ sei. „Offensichtlich sind die Auslöseschwellen der indirekten Systeme bewusst zu niedrig angesetzt worden, um das System für den Verbraucher möglichst bequem zu gestalten und Reklamationen wegen Fehlalarmen vorzubeugen. Raus gekommen sind dabei Messsysteme, die nur auf dem Prüfstand wirklich funktionieren“, meint Gunnar Beer, der bei dem Automobilklub unter anderem für dessen Reifentests verantwortlich zeichnet.

Lieber ein Alarm zu viel, als einer zu wenig ist demzufolge allerdings der Standpunkt des ACE, der zudem kritisiert, dass das „Problem mit der Ungenauigkeit der indirekt messenden Systeme in der Praxis offensichtlich jahrelang bekannt war“ und mit direkt messenden Systemen zugleich ein funktionierendes System zur Verfügung stehe. Vor diesem Hintergrund rät der ACE Autofahrern jedenfalls, den Luftdruck ihrer Reifen weiter bzw. öfters manuell zu prüfen. Das ist natürlich in jeden Fall zu empfehlen. Selbst wenn zumindest Hans-Jürgen Drechsler, Geschäftsführer des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseurhandwerk e.V. (BRV), vonseiten der Mitgliedsbetriebe der Branchenvertretung bisher „kein einziger Fall einer Fehlfunktion“ indirekter RDKS zu Ohren gekommen ist, wie er auf Nachfrage gegenüber der NEUE REIFENZEITUNG erklärt. Dafür aber hat sich ein Reifengutachter zu Wort gemeldet, dem drei Fälle untergekommen sind, wo Fahrzeuge wegen eines Reifendefektes aufgrund vorherigen längeren Fahrens mit Minderdruck verunfallten, ohne dass die jeweils verbauten RDKS gewarnt hätten. Allerdings soll es sich dabei sowohl um direkte als auch indirekte Systeme gehandelt haben.

Übrig bleibt angesichts alldem letzten Endes ein hohes Maß an Unsicherheit. Was vonseiten T&E zur Motivation der bei IDIADA in Auftrag gegebenen Tests zu hören, ist durchaus nachvollziehbar. Und was die Aufmerksamkeit betrifft, die Autofahrer der Bereifung ihres Fahrzeuges schenken, ist bei den meisten sicher vieles so, wie Poliscanova es beschreibt. Aber wäre es nicht gerade dann besonders wichtig, durchweg schlüssige Messungen bzw. Ergebnisse zu präsentieren und nicht mit solchen an die Öffentlichkeit zu gehen, von denen zumindest ein Teil einer nur wenig genaueren Prüfung des Sachverhaltes nicht standhält? Man kann und sollte durchaus darüber streiten, ob nicht direkt messende RDKS tatsächlich die bessere Lösung gegenüber indirekten sind. Dabei aber auch und gerade mit teils fragwürdigen Ergebnissen zu argumentieren und basierend darauf dann noch laut Betrug zu rufen, ist jedoch wohl nicht der richtige Weg. Selbst wenn es heutzutage mitunter anders ist: Nicht auf den sollte gehört werden, der am lautesten schreit, sondern auf den mit den besten und einer kritischen Prüfung standhaltenden Argumenten. christian.marx@reifenpresse.de

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