Kommentar: 100-prozentiger Kompromiss

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Selbst wenn Martin Schulz beim SPD-Bundesparteitag im Frühjahr mit 100 Prozent der Stimmen zum neuen Parteichef gewählt wurde, so sind die meisten Dinge im Leben doch weit weniger eindeutig. Sogar in totalitären Staaten trägt man dem Rechnung, sodass die Ergebnisse vermeintlich „freier Wahlen“ mit in der Regel schon vorher feststehendem Ausgang dort dann meist eher der Formel 90 Prozent plus X folgen. Nichtsdestoweniger liegt es in der Natur des Menschen, beim Verfolgen bestimmter Ziele dem Ideal möglichst nahe zu kommen. Und das ist beileibe nichts Schlechtes.

Doch die wenigsten der dabei zu lösenden Probleme sind rein eindimensionaler Natur. Das ist in der Reifenbranche unter dem Begriff Zielkonflikt bekannt. Da gibt es nämlich mitunter Reifen, die im Trockenen ganz gut und zudem noch preisgünstig sind, dafür aber bei Nässe nicht ganz mithalten können mit Wettbewerbsprodukten. Bei wieder anderen mag es umgekehrt sein, sodass einer Stärke bei Nässe sowie zusätzlich sogar noch auf Schnee Defizite im Trockenen gegenüberstehen. Um all dies nachzuvollziehen genügt ein Blick auf die aktuellen Winterreifentestergebnisse der bekannten großen Automobilmagazine.

Die Kunst der Reifenentwicklung besteht bekanntlich darin, hinsichtlich aller wichtigen Anforderungen einen Kompromiss auf möglichst hohem Niveau zu realisieren. Selbst in Sachen Ganzjahresreifen gelingt dies der Reifenindustrie bzw. ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen immer besser. So mancher Allwetterreifen kann in einzelnen (Winter-)Disziplinen mitunter sogar reinrassige Winterreifen hinter sich lassen, während andere wiederum im Trockenen fast schon mit Sommerreifen mithalten können.

Selbstverständlich sind sie also ein Kompromiss zwischen beiden Gattungen, obwohl die moderneren Vertreter ihrer Art angesichts ihrer überwiegenden Markierung mit dem Schneeflockensymbol eigentlich ja als Winterreifen zu bezeichnen sind. Sie aber deswegen „nur“ als Kompromiss und insofern gewissermaßen als im Vergleich zur saisonalen Umrüstung in jedem Fall lediglich zweitbesten Wahl abstempeln zu wollen, ist doch ein wenig zu pauschal geurteilt. Zumal manche der besseren Ganzjahresreifen sicherlich einige der aus nicht ganz so guten „Billigheimern“ bestehenden Sommer-Winter-Kombinationen hinter sich lassen können.

So verständlich die Argumentation des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseurhandwerk e.V. (BRV) bezüglich alldem mit Blick auf das Wohl und Wehe der Branche ist, der mit steigender Verbreitung von Allwetterreifen fraglos Serviceumsätze (Ummontieren, Einlagern etc.) verloren gehen, so offensichtlich erkennbar ist gleichzeitig das Bemühen, der Nachfragesteigerung nach Ganzjahresreifen unbedingt entgegensteuern zu wollen.

Da wird angeführt, dass bei einem objektiven Vergleich der jeweiligen Vor- und Nachteile einer ganzjährigen respektive mit einer saisonal wechselnden Bereifung nur Produkte aus dem jeweils gleichen Segment herangezogen werden sollten. Aber ist es nicht vielmehr so, dass bei Otto Normalfahrer ein gewisses Budget für die Fahrzeugreifen zur Verfügung steht, das vielleicht besser in Premiumganzjahresreifen als in eine preisgünstigere Sommer-Winter-Kombi investiert wird?

Hinzu kommt, dass eine saisonale Bereifung ihre zweifelsohne (noch?) bestehenden Vorteile in Sachen Fahrsicherheit und Verschleiß nur dann ausspielen kann, wenn sie tatsächlich unter den spezifischen Einsatzbedingungen betrieben wird. Wenn man also mit einem entsprechenden Optimum beispielsweise hinsichtlich dieser beiden Leistungskriterien argumentiert, dann müsste man Verbrauchern folglich auch empfehlen, an solch ungewöhnlich warmen Tagen wie Mitte Oktober ihre zuvor vielleicht schon montierten Winterreifen wieder gegen die Sommerbesohlung zu tauschen.

Dies wäre dann bei jedem Witterungsumschwung zu praktizieren, sofern man wirklich das jeweils Beste aus seinen Reifensätzen herausholen will – alles andere bliebe ja wiederum nur ein Kompromiss. Und warum dann nicht gleich auf mehr als zwei Reifensätze zurückgreifen? Bei winterlichen Fahrbahnen käme ein „Schneekönig“ ans Auto, bei Regen ein im nassen Element starkes Modell und im Trockenen ein darauf spezialisierter Reifen. Nur so könnte man sich schließlich der 100-Prozent-Marke in Sachen Fahrsicherheit bestmöglich annähern.

Das würde Reifenservicebetriebe zweifelsohne erfreuen, ist aber wohl wenig praktikabel bzw. wäre Otto Normalverbraucher noch schwieriger zu vermitteln. Denn das dauernde Umstecken je nach herrschenden Streckenbedingungen mag zwar in Rennserien wie der Formel 1 machbar sein, im normalen Alltag aber nicht. Allein schon angesichts der dann auf die Fahrer zukommenden Kosten. Also ist auch eine im Halbjahrestakt wechselnde saisonale Bereifung letzten Endes nicht mehr und nicht weniger als eben „nur“ ein Kompromiss.

Aber so ist nun mal das Leben. Was im Übrigen nicht einfach nur so dahergesagt ist, sondern auch als die von dem Physiker Werner Heisenberg formulierte Unschärferelation aus der Quantenmechanik bekannt sein dürfte. Sie besagt, dass zwei komplementäre Eigenschaften (eines Elementarteilchens) nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Es wird demnach also nie eine (Reifen-)Lösung geben, die allen (Fahr-)Anforderungen zugleich zu 100 Prozent gerecht wird.

Es geht also weniger um die Frage, ob nun Ganzjahresbereifung der bessere Kompromiss ist oder eine Kombination aus Sommer- und Winterreifen. Vier wichtiger ist die Klärung der Frage, was für jeweils welchen Kunden die optimale Lösung ist. Und genau dabei sollte der Reifenfachhandel unter Berücksichtigung der üblichen Parameter (Fahrleistung, Einsatzart, Wohnort etc.) doch ansetzen und helfen können. Davon bin ich jedenfalls zu 100 Prozent überzeugt. christian.marx@reifenpresse.de

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