Kommentar: Orthopädische Reifen

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Wer hat nicht schon mal davon gehört? Kaffeefahrten, bei denen den meist älteren Teilnehmern Rheumadecken oder allerlei anderes Zeug aufgeschwatzt wird, oder Tupper-Abende, bei denen sich im Hause potenzieller Kunden alles rund um den Erwerb von Plastikgeschirr dreht. Es gibt sogar sogenannte Bettenabende, bei denen der Handelsvertreter in den vier Wänden mehr oder weniger daran interessierter Verbraucher die Vorteile eines speziellen Schlafsystems eines österreichischen Anbieters anpreist und natürlich möglichst viel aus dem entsprechenden Produktportfolio an die Frau und/oder den Mann bringen will.

Ja, so etwas gibt es tatsächlich, wie ich kürzlich aus erster Hand selbst miterleben „durfte“. Denn meine Frau hatte einer Freundin zuliebe ihre Teilnahme an einer solchen Veranstaltung zugesagt und mich mitgeschleift respektive um moralischen Beistand gebeten. Was soll ich sagen: Letztlich war das Ganze ziemlich genau so, wie es sich anhört und wie man sich so etwas vorstellt – nur schlimmer. Doch bekanntlich ist ja nichts so schlecht oder unnütz, als dass man nicht doch etwas daraus lernen könnte. Auch und gerade aus dem Blickwinkel des Reifengeschäftes.

Dazu muss man zunächst wissen, dass der „Bettenmann“ nicht nur sehr sympathisch und freundlich auftrat, sondern zudem noch äußerst redegewandt. Geschenkt: Das sollte freilich für jeden Verkäufer – also auch für solche, die ihren Kunden schwarze runde Gummis andienen wollen – ebenso selbstverständlich sein. Als übellauniger Miesepeter ist es unabhängig von der Branche schließlich ungleich schwieriger, erfolgreich zu einem Abschluss zu kommen, wie für jedermann ohne Probleme unmittelbar nachvollziehbar sein dürfte. Insofern fällt diesbezüglich bis dahin noch keinerlei Lektion ab, die es noch zu lernen gäbe.

Anders wird die Sache in Bezug darauf, wie der gute Mann die – zumindest meinem persönlichen Empfinden nach – außerordentlich hohen Preise der von ihm angepriesenen/vertriebenen Produkte verargumentierte. Immerhin sprechen wir hier von einem Betrag zwischen 1.500 und 2.000 Euro für eine Kombination aus Matratze und speziellem Auflagerost, sodass das komplette Schlafsystem samt Matratzenschoner, Kissen, Zudecke – allein dafür werden 360 Euro aufgerufen – und, und, und in Summe so irgendwo bei 3.000 bis 3.500 Euro zu liegen kommt. Pro Bett wohlgemerkt.

Aber der Vertreter wurde nicht müde zu betonen, dass man damit ja nicht einfach ein gewöhnliches Bett erwerbe, sondern gewissermaßen ein orthopädisches. Ähnlich wie maßangefertigte Kleidung oder Schuhe bequemer seien als deren Pendants von der Stange, schlafe man so freilich deutlich besser. Mehr noch, aber wohl dem leicht erhöhten Durchschnittsalter der Teilnehmer an besagtem Bettenabend geschuldet: Das Ganze beuge nicht nur der Volkskrankheit Rückenschmerzen vor, sondern bringe selbst bei schon bestehenden Problemen Linderung. Eine zusätzliche Kräuterkurauflage soll zudem Erkrankungen der Atemwege bzw. Erkältungen vorbeugen. Fehlte eigentlich nur noch das Versprechen, das Schlafsystem könne zur Krebsheilung beitragen.

Nun sollten die Handelsbetriebe der Branche eine solche Praxis freilich nicht eins zu eins übernehmen und versuchen, „orthopädische Reifen“ mittels bestenfalls fragwürdigen Tatsachenbehauptungen an die Frau oder den Mann zu bringen. Aber ein kleines Scheibchen von dem „Bettenmann“ könnte sich der eine oder andere Reifenhändler durchaus abschneiden, zumal Reifen genauso wie Matratzen für die Mehrzahl der Konsumenten nicht gerade zu den High-Interest-Produkten zählen: dass nämlich Preise nicht immer die entscheidenden oder gar einzigen Argumente in einem Verkaufsgespräch sein müssen.

Klar wird es hier wie dort immer eine Klientel geben, der es nicht billig genug sein kann. Manchmal auch zwangsweise, weil die Haushaltkasse einfach nicht mehr hergibt. Aber es gibt eben noch die anderen, die durchaus bereit sind, für eine fundierte Beratung (und einen anschließend guten Service) ein paar Euronen mehr zu zahlen. Einen Versuch sollte es allemal wert sein. Denn wer aufgibt, hat sowieso schon verloren. christian.marx@reifenpresse.de

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