Kommentar: Nachtigallen, „Fertigungsschwankungen“ und Nokian – wer?

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Selbst wenn man heutzutage auf Messen nicht mehr viel wirklich Neues entdecken kann, weil die dort vertretenen Aussteller damit doch meist schon mehr oder weniger weit im Vorfeld an die Öffentlichkeit gegangen sind: Ein Besuch lohnt sich in den meisten Fällen trotzdem. Denn in Sachen Kontaktpflege bzw. persönlicher Gespräche mit diesem oder jenem sind Messen unschlagbar effektiv – nirgendwo sonst trifft man geballt auf so viele Branchenvertreter, von denen man immer noch etwas lernen kann oder die einen mit der Nase auf Dinge stoßen, über die man zuvor noch gar nicht richtig nachgedacht hat.

So erging es mir auf der jüngsten Automechanika am Stand eines Unternehmens, das zwar nicht direkt selbst im Reifengeschäft aktiv ist, aber Kunden hat, die es sind. Beim Plaudern in netter Atmosphäre kam dabei zufällig auch das Gespräch auf Reifentests. Ganz konkret ging es dabei um den kürzlich erschienenen Ganzjahresreifentest des Autoclub Europa (ACE). So konsterniert sich mein Gegenüber zeigte, dass das an seinem Wagen montierte Bridgestone-Modell „A001“ dabei als „nicht empfehlenswert“ eingestuft wurde, so ehrlich war seine Verwunderung darüber, dass mit Nokians „Weatherproof“ eine Marke den Sieg errang, die ihm bis dahin völlig unbekannt war.

Für einen Brancheninsider erscheint einem so etwas auf den ersten Blick überhaupt nicht nachvollziehbar. Auf den zweiten Blick bzw. aus Sicht von Otto Normalverbraucher, der sich für das Thema Reifen nur dann interessiert, wenn man wieder die Umrüstung von Sommer- auf Winterreifen oder die Neuanschaffung eines Reifensatzes ansteht, dann allerdings schon viel eher. Denn im aktuellen ADAC-Reifenmonitor rangiert Nokian Tyres unter den analysierten 20 etablierteren Marken hinter Barum, BFGoodrich, Yokohama, Kumho und Pneumant auf dem letzten Platz, was die Markenbekanntheit betrifft. Und in Sachen der sogenannten Kaufpräferenz – wo die befragten Mitglieder des Automobilklubs die Marken nennen sollten, die sie sich „am ehesten kaufen“ würden – rangiert man im unteren Drittel.

Insofern ist zumindest ein wenig nachvollziehbar, warum der Rest der Branche nicht gerade laut Hurra gerufen hat, als der finnische Hersteller nach dem Bekanntwerden seiner eigenen Schummeleien bei Reifentests alle anderen nicht nur in Sippenhaft genommen hat mit dem (bislang weiter unbewiesenen) Vorwurf, täuschen und tricksen sei ja allgemein üblich, sondern ihnen am liebsten mithilfe seiner „Richtlinien zur Sicherstellung besonders ethischer Standards und Transparenz beim Reifentesten“ zugleich noch vorschreiben wollte, wie entsprechende Produktvergleiche zukünftig denn ablaufen sollten. Inzwischen hat der europäische Reifen- und Kautschukherstellerverband ETRMA (European Tyre and Rubber Manufacturers’ Association) dem Papier jedenfalls eine klare Absage erteilt.

Zumal besagte Richtlinien, die der NEUE REIFENZEITUNG zwar vorliegen, aus denen wir einer Absprache mit dem Management des finnischen Unternehmens folgend nicht wörtlich zitieren dürfen (soweit zum Thema Transparenz), viel von der Qualität „Nachts ist es kälter als draußen“ haben. Inklusive der immerhin mehr als 40 Haupt- und Unterpunkte auflistenden Inhaltsangabe enthält das 14 Seiten umfassend Dokument letztendlich herzlich wenig Konkretes, dafür aber umso mehr eigentlich Selbstverständliches. Ergänzend findet sich gar eine Art „Anleitung“, wie die Leser mit den veröffentlichten Tests umgehen sollten.

Klar, viel zu verlieren an Markenbekanntheit beim Endverbraucher hat man ja ohnehin nicht mehr. Durch den Profilierungsversuch als geläuterter „Saubermann“ der Branche glaubt man wohl, nur gewinnen zu können. Hat man deshalb das Manifest mit den Testrichtlinien an die Presse weitergegeben? Wäre es stattdessen nicht besser gewesen, sich in wirklicher Transparenz zu üben und ganz offen diejenigen Tests zu nennen, für die tatsächlich „optimierte“ Reifen zugeliefert wurden? So herrscht weniger beim Endverbraucher, der von dem ganzen „Reifentestskandal“ rund um eine ihm nicht so geläufige Marke ohnehin wohl nicht allzu viel mitbekommen hat, als aufseiten der Fachwelt immer noch ein gerüttelt Maß an Verunsicherung.

Schließlich hat die Glaubwürdigkeit von Reifentests nach dem ADAC-Skandal zumindest bei den Lesern der NEUE REIFENZEITUNG ziemlich gelitten. Obwohl der – trotz entsprechender mehrmaliger diesbezüglicher Anschuldigungen im Nachgang zu der vom Klub tatsächlich manipulierten Wahl zum „Lieblingsauto der Deutschen“ – nachgewiesenermaßen nichts mit seinen Reifentests zu tun hatte und hat. Bei einer Onlineumfrage auf unseren Webseiten vor gut zwei Jahren genauso wie ganz aktuell sagen dennoch immerhin knapp zwei Drittel der Teilnehmer, die Produktvergleiche seien nicht (mehr) glaubwürdig, während gut ein Viertel dies nicht so sieht und fast jeder Zehnte keine Meinung dazu hat.

Trotz aller „Transparenzrichtlinien“ haben Bedenken in dieser Richtung zumindest mit Blick speziell auf Nokian übrigens gerade erst neue Nahrung erhalten. Denn im Zuge ihres aktuellen Winterreifentests hat die Autozeitung beim „WR D4“ der Finnen mit 6,5 Prozent doch recht erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Nassgriff festgestellt zwischen Reifen, die der Hersteller aus heimischer Fertigung geliefert hat, und solchen, welche die Tester aus russischer Produktion selbst gekauft haben. „Nachtigall, ick hör’ Dir trapsen“, würde da zwar der Berliner sagen. Aber Nokian hat das Ganze mit – seit der 21. Kalenderwoche dieses Jahres und damit ab DOT 2116 beseitigten – „Fertigungsschwankungen“ erklärt.

Mag sein. Aber was um alles in der Welt hat die Autozeitung-Tester bloß geritten, bei einer solchen Gemengelage den „WR D4“ nicht aus der Wertung zu nehmen? Damit hat man zumindest meiner Meinung nach der Glaubwürdigkeit von Reifentests ganz allgemein einen Bärendienst erwiesen. Wie man es richtig macht, hätte das Blatt beim Sommerreifentest des ADAC und seiner Partnerklubs abgucken können. Denn inkonsistente Messergebnisse zu Pirellis „Cinturato P1 Verde“ hatten dort zu dessen Ausschluss geführt. Vielleicht sind die von Nokian in seinen Testrichtlinien zu Papier gebrachten Selbstverständlichkeiten doch noch nicht für jeden Tester selbstverständlich. christian.marx@reifenpresse.de

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