Der „Wettbewerb der Systeme“ wird weitergehen

Gerade in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten ist kompetente Unterstützung für den Reifenfachhandel wichtig, manchmal sogar überlebenswichtig. Es gibt zahlreiche Aufgaben, die Händler heute nicht mehr alleine bewältigen können, ohne dabei im Wettbewerb mit anderen zurückzufallen. Das Anlehnungsbedürfnis vieler Marktteilnehmer ist heute größer denn je, wie sich auch 2014 wieder bei einigen Gelegenheiten gezeigt hat. Dabei sind es oft die industrienahen Organisationen, die durch ihr Angebot augenscheinlich eine besondere Anziehungskraft ausüben. Aber gleichzeitig zeigen die Großen unter den ungebundenen Organisationen einen ungebrochenen Willen, ihr Angebot entsprechend an die Bedürfnisse der Reifenhändler anzupassen. Auf dem Reifenmarkt ist der „Wettbewerb der Systeme“ zwischen freien und gebundenen bzw. industrienahen Handelsorganisationen derzeit härter denn je.

button_nrz-schriftzug_12px-jpg Dieser Beitrag ist in unserer Januar-Ausgabe erschienen, die Sie hier als E-Paper lesen können.

Immer wieder wird ein vermeintlicher „Niedergang der Verbundgruppen“ thematisiert, auch die NEUE REIFENZEITUNG hat sich dazu in den vergangenen Jahren immer wieder eingelassen. Während sich Hersteller direkt bzw. zunehmend über Franchisesysteme an vorderster Front des Reifenmarktes – also im Einzelhandel – positionieren und sich damit langfristig Marktanteile sichern, manche sagen: teuer „erkaufen“, verlieren ungebundene bzw. lediglich über Kooperationen des freien Reifenfachhandels gebundene Unternehmen gleichzeitig offensichtlich zunehmend das Selbstvertrauen das es braucht, will man sich im Reifengeschäft langfristig behaupten.

Minimale Margen beim Reifen sorgen für hohen wirtschaftlichen Druck und den Zwang, unter hohen Kosten neue Geschäftsfelder auszuprobieren (etwa Autoservice), Qualitäts- und Effizienzsicherung in Werkstatt und Verkauf kostet zunehmend Geld, gerade wenn dies unter Zuhilfenahme komplexer EDV-Systeme geschieht, und immer mehr Endverbraucher kommen heute ohne feste Beziehungen zu einen Reifenhändler aus und kaufen vielfach die Reifen gleich ganz im Internet – das Internet, überhaupt eine „Erfindung des Teufels“, finden Reifenhändler.

Dass komplette Einzelkämpfer vor diesem Hintergrund wirklich nur noch bedingt bestehen können, und wenn, dann in besonderen Nischen oder als stark vernetzter Local Hero, ist schon lange klar. Entsprechende Erkenntnisse lassen sich ohne Probleme anhand der Distributions- und Marktstrukturanalysen des BRV zum Reifenfachhandel in Deutschland ablesen. Woher stammt aber der offensichtliche Rückenwind im „Wettbewerb der Systeme“, der viele Händler in die Nähe der Industrie treibt und der offensichtlich deren Selbstvertrauen unterminiert?

Im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG beklagte ein Händler einmal den nachlassenden Unternehmergeist im deutschen Reifenfachhandel. Verführt vom All-Inclusive-Angebot der Industrie verließen sich heute mehr und mehr Unternehmer schlichtweg auf Entscheidungen in den Konzernzentralen der Hersteller und übertrügen entsprechend Verantwortung.

Während die Industriesysteme hier sicherlich einiges zu bieten haben – Konditionen, IT, Marken, Marketing, finanzielle Unterstützung, Beratung für Werkstatt und Verkauf, Flottengeschäft und vieles andere mehr –, scheint vielen die Verteilung der Risiken zwischen Systemgeber und Systemnehmer aber nicht immer ausgewogen. Auch wenn ein Großteil der Verantwortung für die Führung des Geschäftes übertragen wird und demnach weniger eigene Entscheidungen zu treffen sind, folgt das betriebswirtschaftliche Risiko doch dieser Übertragung von Verantwortung nicht in vollem Umfang. Es gibt heute Franchisesysteme in Deutschland – etwa bei Tankstellen oder in der Systemgastronomie –, die ihren Partnern im Retail-Geschäft kaum mehr Luft zum Atmen lassen; wirtschaftlicher Erfolg stellt sich, wenn überhaupt, nur über Skaleneffekte ein.

Nachlassender Unternehmergeist also. Während die Branche in früheren Jahrzehnten durch besondere Unternehmertypen charakterisiert war, so übernehmen heute – wenn überhaupt – die Kinder der zweiten oder dritten Generation die Betriebe. Mit einem BWL-Studium in der Tasche treten dort zunehmend kühl kalkulierende Jungunternehmer das Erbe ihrer Väter und Mütter an. Diese Unternehmer fühlen sich vielfach – geprägt auch durch ihre universitäre Ausbildung – der Industrie näher als dem handwerklich geprägten Geschäft ihrer Elterngeneration; Handwerk bedeutete seit jeher aber auch Selbstständigkeit und Verantwortungsgefühl und Selbstbewusstsein.

Die Situation wird karikiert durch hohe Systemabgaben, die Erträge in Richtung Industrie verschieben (sollen). Auch wenn es schwer ist, die Kostenstrukturen verschiedener Organisationen des Reifenfachhandels miteinander zu vergleichen, so betonen die Vertreter der Organisationen des ungebundenen Reifenfachhandels doch bei jeder Gelegenheit: Wir bestehen den Vergleich und erbringen eine Leistung, die es wert ist, dafür zu bezahlen! Es gibt Organisationen mit einem hohen Integrationsgrad und einem überaus vielfältigen Angebot – siehe point S –, und solche, die neben dem Basisangebot beim Einkauf nur begrenzte Zusatzleistungen erbringen wollen – siehe EFR. Bei beiden und bei allen anderen dazwischen gilt derweil eins: die unternehmerische Freiheit, zu wählen oder nicht, ist von der Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen nicht beeinträchtigt. Die Entscheidungen trifft immer der Unternehmer, nie die Zentrale.

Kühle Rechner mit nachlassendem Unternehmergeist lassen sich folglich nur schwer überzeugen.

Man kann einen nachlassenden Unternehmergeist in der Branche beklagen, sich über minimale Margen im Reifenhandel aufregen und mit dem Finger auf die Industriesysteme zeigen, die sich den Zugang zum Markt erkaufen. Aber: Wer vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität des Marktes mit einem breiten Angebot bestehen will, kommt heute nicht mehr ohne die Unterstützung einer starken Gruppe aus – egal, ob industrienah oder eben nicht. Der „Wettbewerb der Systeme“ wird weitergehen. arno.borchers@reifenpresse.de

 

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