Pirelli wird Reifenhändler in Schweden

Ausgerechnet Pirelli hat ganz tief in die Brieftasche gegriffen, um die schwedische Handelskette Däckia mit ihren 66 Niederlassungen übernehmen zu können, zu der ferner – wie es bei Pirelli heißt – 50 angeschlossene Vertriebspartner zählen. Mit einer Zahlung von 70 Millionen Euro boten die Italiener der Verkäuferin, einer Private-Equity-Gesellschaft, 70 Millionen attraktive Gründe, sich aus dem Reifengeschäft zurückzuziehen. Damit hat Pirelli eine 100 Millionen Euro umsatzstarke Handelskette hoch im Norden Europas erworben, womit sich der Konzern in einen „margenstarken High-End-Markt“ eingekauft zu haben meint. Als Vorlage könnte dabei der finnische Reifenhersteller und Pirelli-Wettbewerber Nokian gedient haben, der sich als kleiner, aber außerordentlich erfolgreicher Nischenanbieter fast ausnahmslos auf schneesichere und schneereiche Regionen in Europa und auch Kanada konzentriert und mit dem Aufbau einer starken Handelskette namens Vianor in diesen Regionen den Absatz vorzugsweise auf dem Heimatmarkt Skandinavien sichern will.

Nachdem sich Pirelli mit Erwerb und Aufbau der Handelskette Pneumobil in den 80er Jahren gründlich die Finger verbrannt hatte und die Handelskette immer wieder Restrukturierungen unterziehen und Verluste ausgleichen musste, bestand durchaus berechtigte Hoffnung, der Reifenhersteller werde zukünftig auf eine arbeitsteilige Welt, Reifen herstellen und diese über den Fachhandel vermarkten, setzen.

Mit 70 Millionen Euro war Däckia kein Schnäppchen. Ein 100-Millionen-Umsatz ergibt keinen 100-Millionen-Euro-Einkauf bei Pirelli. Zieht man Dienstleistungs- und Zubehörgeschäfte sowie die Kalkulationsaufschläge der Handelskette ab, dürfte man bei einem Einkaufsvolumen von bestenfalls 50 Millionen landen. Unterstellt man die Pirelli-Angaben, müsste Multi-Marken-Anbieter Däckia gut eine halbe Million Pkw-Reifen verkauft haben. Wie viel davon wird man auf die Marke Pirelli „switchen“ können? Anders als Nokian hat Pirelli in Skandinavien nicht gerade einen Ruf als Spezialist für Winterreifen, sodass man gut beraten wäre, zunächst mit kleinen Zahlen zu kalkulieren. Und wenn die Stunde der Wahrheit geschlagen hat, wird man die Antwort darauf, ob sich die Investition gelohnt hat, errechnen. Und es wird wie so oft sein: Man kann sich arm, aber auch reich rechnen. Wie viele Reifen hätte Pirelli ohne Däckia in Schweden abgesetzt, wenn man nur einen Bruchteil der Kaufsumme von 70 Millionen Euro in Marketingkonzepte mit strategischen Partnern gesteckt hätte?

Es wird Däckia schwerfallen, Gewinne zu erwirtschaften, weil alle Pirelli-Wettbewerber wissen, dass Däckia nur die Mengen „fremder“ Reifen vermarkten wird, die unvermeidbar sind, wenn Verbraucher auf einer anderen Marke als Pirelli bestehen. Für solche „Zwangsumsätze“ wollen die Lieferanten der Pirelli-Handelskette bestimmt keine besonders günstigen Preise einräumen.

Überwiegend sollen die in Skandinavien zu verkaufenden Reifen aus der von Sibur übernommenen Fabrik Voronezh geliefert werden. Kurz beschriebene Strategie: in Billiglohnländern herstellen, auf reifen Märkten mit Kaufkraft vermarkten.

Bis dato hätte man davon ausgehen können, dass Pirelli auf die Anziehungskraft der Marke vertrauen und sich auf die hohe Qualität seiner technisch anspruchsvollen High-Performance-Reifen konzentrieren würde, um auf Herstellung und Vermarktung so zu bezeichnender Brot- und-Butter-Reifen nach und nach völlig verzichten zu können. Nun aber scheint es auch darum zu gehen, die Produktionskapazitäten der russischen Fabrik absetzen zu können.

Ist dieser Pirelli-Schritt nun ein Zeichen der Stärke, beispielsweise eines Reifenherstellers, der über ausreichende Ressourcen verfügt, sich auch Marktanteile kaufen zu können? Oder ist dieser Schritt als Zeichen von Schwäche zu bewerten?

Noch ein Blick auf den Konkurrenten Nokian: Hersteller und Marke sind sowohl in Skandinavien als auch in Russland als kompetente Winterreifenspezialisten anerkannt und die uneingeschränkte Nummer 1 in Skandinavien, aber auch in Russland. Und Nokian hat ein Management, das sich in diesen Regionen perfekt auskennt. Man wird mit Interesse verfolgen dürfen, wie die neu erworbene Handelskette an Mailänder Leine laufen wird.

Außenstehende Beobachter können strategische Überlegungen sowieso nur selten nachvollziehen, weil ihnen Entscheidungsgrundlagen ja nicht präsentiert werden. So kommt man dann doch zu der Befürchtung, dass Pirelli den Glauben an sich selbst verlieren könnte. Wie gepredigt hörte es sich schon an, wenn Pirelli-Manager ihre Überzeugung vortrugen, es genüge eine herausragende Qualität und eine herausragend gute Marke, um auf der Welt bestehen zu können. Eines ist sicher: Pirelli ist ein Ausnahmehersteller von Reifen, die Manager haben den Beweis erbracht, erstklassige Produkte herstellen und vermarkten zu können. Sie haben gezeigt, wie man eine Marke von Welt pflegt und modern hält. Als Reifenhändler haben sie noch nichts bewirkt, sondern Grund, mit den bisherigen Ergebnissen nicht ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu treten.

Das Gute daran: Das ist nicht Pirelli-typisch. Im Gegenteil, man befindet sich in bester Gesellschaft mit ein paar namhaften Konkurrenten. klaus.haddenbrock@reifenpresse.de

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