Francesco Gori verlässt Pirelli – Auch Erfolge können Opfer schaffen

Die Pirelli-intern als „Neudefinition des Organisationsmodells“ Opens external link in new windowbeschriebene Führungsfehde zwischen den beiden Topleuten Marco Tronchetti Provera (64) und Francesco Gori (60) ist für viele Beobachter international tätiger Konzerne ein erstklassiges Déjà-vu-Erlebnis.

Als der legendäre urdeutsche Krupp-Konzern vor Jahrzehnten auf dem Höhepunkt der Stahlkrise an Rhein und Ruhr einem Zusammenbruch nur mit staatlichen Hilfszahlungen im hohen dreistelligen Millionenbereich entkommen konnte, wurde zunächst das Spitzenmanagement auf staatlichen Druck hin ausgetauscht. Krupp-Chef Berthold Beitz musste sich als Chef der den Konzern bis dahin beherrschenden Krupp-Stiftung auf die berühmte „Villa Hügel“ zurückziehen, ein Sitz im Aufsichtsrat war ihm geblieben. So sollte es auch zukünftig bleiben, wäre da nur der neue Mann Günter Vogelsang nicht so spektakulär erfolgreich gewesen. Vogelsang räumte auf, verkaufte, was allzu oft verlustträchtig war, er gab die Produktion von Lastkraftwagen und Lokomotiven auf und verdiente im Kruppschen Kerngeschäft schnell wieder so viel Geld, dass die Staatsgelder schneller als je gedacht zurückgezahlt werden konnten. Dank dieses von ihm nur von außen beobachteten und bewunderten Gesundungsprozesses wuchs Beitz’ neuer Einfluss automatisch. „Der Hügel“ mischte sich mehr und mehr ein, sodass Vogelsang eine Verlängerung seines Vertrages ablehnte und Krupp verließ, denn der erfolgsverwöhnte Spitzenmann verstand sich als Führer und eignete sich nicht als Vollstrecker von Anordnungen „des Hügels“.

Seither beaufsichtigte de jure Berthold Beitz den Krupp-Konzern weiter stets „nur“ als Aufsichtsratsvorsitzender, später Ehrenvorsitzender, de facto jedoch bestimmte er als Vorsitzender der Krupp-Stiftung allein, was ging und was zu unterlassen war. Übrigens bis zum heutigen Tage. An dem fast 99-jährigen alten Herrn geht kein Weg vorbei. Der Vorstand muss „den Hügel“ gewogen halten, denn dank des 25,1-prozentigen Anteils am Aktienkapital des nun fusionierten ThyssenKrupp-Konzerns bestimmt nach wie vor nur einer: der Vorsitzende der Krupp-Stiftung. Während der inzwischen auch bereits 92-jährige Vogelsang nach seinem Ausscheiden bei Krupp seine berufliche Erfolgsgeschichte par excellence fortzuschreiben verstand, gab es bei Krupp immer wieder mal neue Krisen, und in diesen Monaten steht der ThyssenKrupp-Konzern vor äußerst großen Herausforderungen, die seinen Fortbestand – wieder einmal – gefährden könnten.

Von der Ruhrmetropole Essen nach Mailand. Die Stadt gilt als Italiens heimliche Hauptstadt, als „moralische Hauptstadt“ sowie als „Tor zur Welt“ und als Wirtschaftszentrum Italiens. Der Name Pirelli ist dort so legendär wie Krupp in Deutschland. Anfang der 90er Jahre stand der von Leopoldo Pirelli beaufsichtigte Reifen- und Kabelkonzern am Abgrund. Mit Marco Tronchetti Provera übernahm ein noch relativ junger Mann, dessen Familie inzwischen mit einem Anteil von 25,1 Prozent größter Pirelli-Aktionär ist, die Konzernführung. Mit harter Hand und mit der Geduld involvierter Banken gelang dem Finanzfachmann die Restrukturierung. Der Not gehorchend mussten die Konzernteile Kabel und Diversified Products verkauft werden. Pirelli war zu den Wurzeln, Reifen, zurückgekehrt.

Doch dann gelangen Tronchetti während der Interneteuphorie, rechtzeitig vor dem Zerplatzen der Internetblase, ein paar spektakuläre Desinvestitionen. Tronchetti verkaufte einige kleine IT-Gesellschaften mit Umsätzen im niedrigen dreistelligen Millionenbereich zu Milliarden Dollar-Summen. Das ist die gute Seite der Medaille. Die schlechte allerdings ist, dass er dieses Geld in die Telecom Italia investierte. Diese Investition verlief enttäuschend. Dank einer geschickten Finanzkonstruktion beherrschte er dieses Unternehmen, obwohl Pirelli und Benetton nur einen geringen Anteil am Aktienkapital hielten. Tronchetti wollte sich und anderen zeigen, dass und wie ein bis dahin eher langweiliges Staatsunternehmen entwickelt und zur Blüte getrieben, wie Werte geschaffen werden konnten. Das Platzen der Internetblase und der 9/11-Anschlag zerstörten Milliarden Dollar-Vermögen. Die selbst gesetzten Ziele konnten nicht erreicht werden; der Ausstieg war möglicherweise nicht ganz freiwillig, trotzdem eine Erleichterung für den Pirelli-Konzern.

Über all die Jahre hinweg hatte nur ein Konzernteil funktioniert: Pirelli-Reifen. Der in den nächsten Tagen nach 33 Jahren im Dienst des Reifenherstellers auch offiziell ausscheidende Francesco Gori ist einer der erfahrensten Reifenmanager weltweit. Er war verantwortlich für Produktplanung, Strategie, Verkauf, bis er vor elf Jahren zum Chef des Konzernbereichs aufstieg. In den 90er Jahren verlor Pirelli kontinuierlich Marktanteile und schien langfristig kaum noch eine Zukunft zu haben. Gori stoppte diesen Trend und stellte Pirelli neu auf. Einfach waren die Aufgaben nicht, denn zunächst standen kaum finanzielle Mittel zur Verfügung, später wurden alle Mittel für das Telecom-Abenteuer benötigt. Es ging sogar so weit, dass Tronchetti in Analystenrunden den Verkauf der Sparte Nutzfahrzeugreifen in Aussicht stellte, um mehr Bewegungsfreiheit bei der Telecom Italia zurückgewinnen zu können. Ein Vorhaben, gegen das sich das Management aussprach und das zudem auch wegen der engen Verzahnung der Pkw- und Nutzfahrzeugfabriken nur sehr schwer möglich gewesen wäre. Abgesehen davon: Wer hätte denn damals kaufen sollen, zu einer Zeit als mit der Herstellung von Nutzfahrzeugreifen kaum Geld zu verdienen war?

Gori hatte um die Jahrtausendwende nicht allein den Negativtrend gestoppt, es gelang ihm in den folgenden Jahren bis heute, Pirelli als Reifenhersteller weltweit in eine sehr aussichtsreiche Position zu bringen. Nach Umsatz „nur“ und doch immerhin Nummer fünf weltweit. Wenn man allerdings in Betracht zieht, dass dieser Umsatz nahezu ausschließlich mit der Premiummarke Pirelli generiert wird, wird klar, dass man in einfachen Absatzzahlen nicht denken kann. Pirelli steht für High-Performance-Reifen, für Premiumreifen, für „grüne Reifen“ ebenso. Vor allen Dingen aber für eine One Brand Strategy! Alle anderen großen Wettbewerber addieren Umsätze unter verschiedenen Markennamen, müssen diese betreuen, bewerben und mit Abschlägen zur ersten Marke verkaufen. Zwischenzeitlich wurde Pirelli vorausgesagt, mit einer Marke allein nicht wettbewerbsfähig bleiben zu können gegenüber Konkurrenten, die eine Markenvielfalt in unterschiedlichen Preissegmenten anbieten können. Diese Voraussage hat sich als falsch erwiesen. Nur mit Marken, mit Premiummarken lässt sich gut verdienen, mit Billigmarken ist kein Staat zu machen. Und weil dies so ist, gehen immer mehr Wettbewerber dazu über, Produktionskapazitäten aus dem Markt zu nehmen.
Seit wenigen Jahren erst kann adäquat bzw. ausreichend in den Bereich Reifen investiert werden. Der letzte Versuch des Konzernumbaus, der Ausflug in den Immobilienbereich, hat sich auch als nicht zufriedenstellend erwiesen und wurde beendet.

Der Pirelli-Konzern ist auf dem Weg, die Sechs-Milliarden-Euro-Grenze zu knacken. 2011 wurden mit einem Umsatz von 5,6 Milliarden Euro 461 Millionen Euro Nettogewinn erwirtschaftet. Gori hat alle Ziele erreicht, der Reifenkonzern wächst und wächst, die EBIT-Margen sind zweistellig. Keinerlei Wolken am Horizont.

Und doch zeigen sich nun Probleme. Gori führt den Reifenbereich und sitzt im Vorstand des Konzerns. Der Pirelli-Konzern steht aber inzwischen zu 99 Prozent für Reifen, worin besteht also die Rolle des Konzernchefs, der mit dem Versuch des Konzernumbaus aber nicht den erwarteten Erfolg erzielte? Auf einen Aufsichtsratsposten wollte Tronchetti offensichtlich noch nicht. Und angesichts bestehender Machtverhältnisse war klar, dass sich die Frage nach der besseren Wahl verbot, die Würfel waren gefallen. Es ist Ausdruck eines durch jahrelange Erfolge gefütterten Selbstverständnisses, dass Gori die Konsequenz für sich zog, nachdem „der Hügel“ die Führung beanspruchte.

Vor einer neuerlichen Richtungsänderung dürfte Pirelli aber nicht stehen. Dem immerhin bereits 64-jährigen Marco Tronchetti Provera bleibt in seinem beruflichen Leben kaum noch Zeit genug, einen längerfristigen Umbau ins Auge zu fassen. Er wird das gute deutsche Sprichwort „Schuster bleib bei deinem Leisten“ beherzigen. Pirelli kann viel, aber eines besonders gut: Reifen herstellen und Reifen vermarkten. Die Chancen stehen gut, dass es weiter so bleibt.

Francesco Gori wird Marktbeobachtern und Kunden als verlässlicher Partner in Erinnerung bleiben. Klar im Handeln, konsequent und beharrlich in der Umsetzung. Angenehm im Umgang, selbst in schwierigen Gesprächen und mit viel Sinn für feinen Humor. Francesco Gori hat immer wieder vorgemacht, dass erfolgreich nur ist, wer – wie ein Eiskunstläufer – neben der Kür auch die Pflicht beherrscht. Man muss die Finanzwelt, die Bankanalysten, mit aufregenden Börsenstorys überzeugen können, zuvor aber auch eine Vielzahl von Kunden mit bestenfalls regionaler Bedeutung für sich einnehmen. klaus.haddenbrock@reifenpresse.de

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