Europas Winterreifenmarkt boomt und Verbraucher sind verunsichert

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Der europäische Winterreifenmarkt legt weiter zu: Rund 80 Millionen Stück hat die Industrie im letzten Jahr an die Reifenhändler und Autohäuser geliefert – so viel wie nie zuvor. Wer den Grund ausschließlich im steigenden Sicherheitsbewusstsein der Autofahrer sieht, übersieht, dass die Gesetzgeber ihre Bürger mehr und mehr verpflichten, auf die sicheren Winterreifen umzurüsten. In Skandinavien – außer in Dänemark – ist dies schon lange festgelegt, in den baltischen Staaten besteht die Verpflichtung ebenfalls, Deutschland und Österreich schreiben Winterreifen bei „winterlichen Bedingungen“ vor, Frankreich und Luxemburg starten mit der gesetzlichen Regelung zu diesem Winter und selbst im vom Mittelmeer umspülten Italien haben lokale Regierungen in den nördlichen Regionen Winterreifen zur Pflicht gemacht, wie es dazu in einer Mitteilung der Continental heißt.

Der Trend zu Winterreifen nimmt damit europaweit dynamisch zu. So wurden dort im letzten Jahr rund 18 Millionen Reifen mehr abgesetzt als 2007, dem Jahr vor der Wirtschafts- und Finanzkrise. Das Sommerreifensegment dagegen wird 2011 erstmals wieder das Niveau von 2007 erreichen. Damit wächst gerade der Markt der Spezialisten für die kalte Jahreszeit überproportional. Im Jahr 2010 setzte die Branche in Europa insgesamt 224 Millionen Pkw-Reifen ab, im vergangenen Jahr errechneten die Marktforscher von Continental 236 Millionen. Die Winterreifen machen davon mit 80 Millionen heute bereits mehr als ein Drittel aus, sie legten im Vergleich mit dem Vorjahr um sechs Millionen zu.

Verbraucher rüsten auch ohne Winterreifenpflicht um

„Schwergewicht“ unter den europäischen Absatzländern ist traditionell Deutschland. So bestellte der Handel im vergangenen Jahr alleine zwischen Flensburg und Freilassing rund 35 Millionen Stück – anderthalb Millionen mehr als im Boomjahr 2010. Nahezu 90 Prozent der Autofahrer rüsten hierzulande um. Doch auch in den Ländern, in denen in diesem Jahr noch keine allgemeine Umrüstpflicht gilt, wollen die Bürger sicher fahren. Daher wurden in Italien mit seinen rund 37 Millionen zugelassenen Pkw in diesem Jahr circa 8,6 Millionen Winterreifen verkauft, in Frankreich mit gut 31 Millionen Pkw waren es fünf Millionen. Die Marktforscher von Continental sehen auch hier Zuwächse, die sie dem steigenden Informationsstand der Bürger wie auch ihrem Bedürfnis nach mehr Sicherheit zuschreiben.

Unklarheit über Kennzeichnung von Winterreifen

Trotz der mehr und mehr zunehmenden Regelungen über die Winterreifenmontage gibt es nach wie vor keine feste, europaweite oder nur nationale Regelung, was ein Winterreifen können muss. Das Problem: Die oft zitierte M+S-Kennzeichnung ist nicht mit einem Leistungsnachweis verbunden. Und da sie für Reifen mit einem Plus auf „Matsch und Schnee“ steht, können sowohl Winter- wie auch Geländereifen problemlos so gekennzeichnet werden.

4×4-Geländereifen eignen sich jedoch nicht für das Fahren auf typisch winterlichen Straßen, so dass ein Verbraucher, der sich an diesem traditionellen Schriftzug orientiert, im Zweifelsfalle keine Winterreifen am Wagen hat. Eine im Oktober 2011 auf Europas führender Online-Community www.motortalk.de durchgeführte Umfrage zeigte die Unsicherheit deutlich. Bei der Frage, ob man sich ausreichend über die gesetzlichen Regeln bei Winterreifen informiert fühle, antworteten 47 Prozent der Teilnehmer entweder mit „nein“ oder mit „einigermaßen“. Auch die gesetzliche Vorgabe zur Winterreifenkennzeichnung war unklar: 77 Prozent der Umfrageteilnehmer waren nicht richtig informiert, nur 23 Prozent wussten, dass in Deutschland derzeit die M+S-Kennung alleine ausreicht. Hoch ist auch die Unklarheit über den Sicherheitsgewinn durch Winterreifen: Insgesamt 38 Prozent der Befragten glaubten, dass Winterreifen den Bremsweg auf Schnee um 20 oder 30 Prozent verkürzen – richtig wäre „mehr als 40 Prozent“ gewesen, was immerhin 62 Prozent richtig beantworten konnten. Die tatsächlichen Unterschiede liegen sogar bei rund 100 Prozent – Winterreifen halbieren den Bremsweg im Vergleich mit Sommerreifen beim Bremsen auf Schnee.

Abhilfe bei der unklaren Kennzeichnung würde das aus Kanada stammende Schneeflockensymbol bringen, so die Continental weiter, sieht es doch einen Vergleich des „Winterreifenaspiranten“ mit einem Standardreferenzreifen vor. Doch in Europa schreibt nur das kleine Bosnien-Herzegowina seinen rund 450.000 Autobesitzern Winterreifen mit M+S- und Schneeflockenkennung vor. Die übrigen europäischen Länder mit Winterreifenpflicht setzen auf einen Mix zwischen M+S-Kennung, „winterlichen Straßenbedingungen“ sowie Zeiträumen, in denen Winterreifen montiert sein müssen. So sieht die Verwaltung Österreichs beispielsweise zwischen dem 1. November und dem 15. April bei winterlichen Straßenbedingungen Reifen mit M+S-Markierung und mindestens vier Millimetern Profiltiefe vor. Fehlen Schnee und Eis, ist man dort also selbst mit auf 1,6 Millimetern abgefahrenen Sommerreifen richtig bereift, auch wenn die Temperaturen deutlich unter dem Nullpunkt liegen. Zusätzlich hält der Gesetzgeber für absolute Winterreifenmuffel fest, dass sie die Winterreifenpflicht umgehen können, wenn sie auf ihren Sommerreifen Schneeketten montieren. Fachleute kritisieren jedoch, dass auf vereisten Passagen wie beispielsweise an Kreuzungen oder vor Kurven sowie auf ganz vereisten Straßen diese „Bereifungskombination“ die Bremswege im Vergleich mit Winterreifen deutlich verlängert.

Das Angebot an Winterreifen wird für Endverbraucher immer unübersichtlicher. Den sicheren „Alleskönner“, der zumindest Pkw und Vans ‚unter eine Decke’ bringt, gibt es nicht mehr. Fachleute unterscheiden denn auch zwischen Reifen für Pkw, Vans und Lkw. Doch auch hier gibt es deutliche Unterschiede: Bei den Pkw müssen inzwischen Reifen für Kompakte, für die Mittel- und Oberklasse, für Sportwagen und 4×4-Fahrzeuge auseinander gehalten werden. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen an die Fahrzeugnutzung, Handling, PS, Gewicht und Antriebsart. Doch selbst diese unterschiedlichen Winterreifenmodelle können allenfalls regional überzeugen. Daher werden in Mitteleuropa und Nordeuropa unterschiedliche Typen angeboten.

Während die mitteleuropäischen Winterpneus mit – vergleichsweise – härterer Mischung gefertigt werden, um ihre Laufleistung hoch und ihre Fahreigenschaften über den ganzen Spätherbst und Winter bei den in Deutschland, Österreich und der Schweiz üblichen Temperaturen sicher zu halten, setzen führende Hersteller wie Continental in Skandinavien und Russland auf die sogenannten „Nordics“: Winterreifen mit einer weicheren Mischung oder mit Spikes, die auf den im hohen Norden meist vereisten Straßen maximalen Grip liefern. Wie auch bei den mitteleuropäischen Winterreifen üblich, werden sie für alle Segmente (Kompaktklasse, Mittel- und Oberklasse, Sportwagen sowie 4×4) gefertigt. Selbst für Spezialnutzungen wie an Fahrrädern stellt Continental Winterreifen her.

Auch für Lkw haben die Hannoveraner zwei Lösungen parat: Die Standardbereifung, bei der die Antriebsachse mit einem Traktionsprofil bestückt ist und die spezielle Winterbereifung rundum. Während die Standardlösung ausreichend Grip liefert, wenn der beladene Zug auf winterlichen Autobahnen und Fernstraßen ohne extreme Steigungen fährt, haben die Rundum-Winterreifen für Lkw und Busse selbst dann noch guten Grip, wenn ein leerer Zug nach Skandinavien fahren muss. Dort allerdings montieren Transportunternehmen traditionell Spikereifen rundum – so bereift, könnten sie allerdings in Deutschland nicht einmal die Fähre aus Stockholm verlassen. Spikes wurden hier bereits in den 1970er Jahren aus dem Straßenverkehr verbannt. ab

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