Von Sell-out-Preisen und einem geforderten „Systemwechsel“

Klagen im deutschen Reifenhandel hört man derzeit eher selten. Natürlich, die Einkaufspreise sind in den vergangenen Monaten derart oft “angepasst”, mit anderen Worten: erhöht worden, dass Kalkulationen für den Hofverkauf nur eine sehr begrenzte Halbwertzeit haben. Und natürlich, die Verfügbarkeit von Reifen ist derzeit so schlecht, dass man fast von Mangelwirtschaft reden möchte; die Industrie teilt heute zu, sie verkauft nicht mehr. Sieht man sich allerdings die Ergebnisse des vergangenen Geschäftsjahres an, so konnten doch in 2010 deutlich mehr Pkw-Reifen an deutsche Endverbraucher verkauft werden (+10,1 Prozent), womit – nicht zuletzt dank eines guten Winterreifengeschäftes – im Handel ein Umsatzplus von 19,6 Prozent erzielt wurde. Da die durchschnittlichen Roherträge vor diesem Hintergrund dennoch nur unterdurchschnittlich um 11,9 Prozent gesteigert werden konnten, zeigt, dass Potenziale verschenkt wurden. Aber wie geht es in 2011 weiter?

Unterhält man sich mit Vertretern der Reifenindustrie in Deutschland oder auch mit Funktionären aus dem Reifenhandel, dann wird eines klar: Die Zeiten quasi grenzenloser Verfügbarkeit von Reifen sind vorüber – zumindest für den Moment. Dass Produkte in einem marktwirtschaftlichen System nicht lange knapp bleiben, vorausgesetzt, es gibt keine regulativen oder sonstigen Einschränkungen, ist eine wirtschaftswissenschaftliche Binsenweisheit. Die Frage ist also: Wie lange wird es dauern, bis der unnatürliche Zustand der aktuellen Warenknappheit zu Ende geht? Die Antwort wird die Zeit bringen, so viel ist sicher. Aber spannender, weil tagesaktuell, ist die Frage: Wie sollte der Reifenhandel auf die neue Situation reagieren?

“Wir erleben nun schon das dritte Jahr in Folge, dass die Produktionskapazitäten dem realen Bedarf angepasst sind und bei den Herstellern auch keine Pufferbestände zum Ausgleich saisonaler Schwankungen am Markt mehr existieren”, sagt BRV-Geschäftsführer Hans-Jürgen Drechsler. Der Verband, der seinen Mitglieder jedes Jahr auf’s Neue Empfehlungen in puncto Preisgestaltung und Vororder gibt, hat zur Verfügbarkeit von Reifen, insbesondere von Pkw-Reifen, eine dezidierte Ansicht: “Die Zeiten schier endlos verfügbarer Ware im Reifenersatzgeschäft und alle damit verbundenen früheren Gepflogenheiten in Einkauf und Beschaffung im Handel sind damit für immer vorbei”, ist Drechsler überzeugt.

Auch wenn man über den Befund eines ‚Dauerschadens’ der Wirtschaftskrise sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal sprechen muss. Klar ist: Ware ist nicht ausreichend verfügbar, zumindest nicht dann, wenn sie vom Handel abgerufen wird. Darin spiegelt sich eine Gepflogenheit, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend eingebürgert hat. Reifenhändler kommen ihrer “Bevorratungspflicht” – so sieht es jedenfalls die Industrie, die auf sinkende Lagerbestände ihrerseits setzt – nicht mehr in vollem Umfang nach. Bricht dann wie jedes Jahr das Saisongeschäft über den Reifenhandel herein, gibt dieser die Saisonspitzen kurzerhand an Industrie und Großhandel weiter, deren Systeme dann wiederum unter der Last der Bestellungen ins Stocken geraten. Die Just-in-time-Mentalität im Reifenhandel wird durch immer ausgeklügeltere Logistiksysteme beflügelt. Im vergangenen Jahr zeigte sich dann allerdings die negative Seite dieser fehlenden Bevorratungsneigung: Reifen sind nicht oder nur mit Verspätung lieferbar, Preise auf den Onlineplattformen gehen durch die Decke, jeder kritisiert jeden.

Der BRV-Geschäftsführer Hans-Jürgen Drechsler sagt allerdings, “dass wir meines Erachtens kein generelles Problem der Warenverfügbarkeit im eigentliche Sinne haben; es werden nach wie vor genügend Reifen produziert. Sondern vielmehr gibt es ein Steuerungsproblem um abzusichern, dass die Ware zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist.” Dies bedeute wiederum, so Drechsler weiter im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG, “dass die gesamte Branche, also Industrie und Handel, zu einem Systemwechsel in Einkauf, Beschaffung, Lagerhaltung und Lieferung definitiv gezwungen ist”. Laut Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk sei eine der zentralen Grundlagen für den geforderten “Systemwechsel” die konkrete Aussage von Reifenherstellern darüber, bis wann spätestens und in welcher Größenordnung der Reifenfachhandel bei der Industrie verbindlich vorordern bzw. disponieren muss, um eine dann vertragsrechtlich auch verbindliche Lieferzusage – mit allen Konsequenzen für beide Seiten – für die Direktbelieferung zu erhalten. Ebenfalls seien Empfehlungen darüber sinnvoll, welche Großhändler bei eingeschränkter Lieferfähigkeit der Industrie stattdessen entsprechende Ware liefern könnten. Auch müssten in Bezug auf den Großhandel “verbindliche Liefer- und Leistungsverträge” verabredet werden, damit das Problem der Warenverfügbarkeit minimiert bzw. beendet werde.

Ob solche Absprachen zwischen allen Marktbeteiligten überhaupt, vielleicht sogar verbindlich, getroffen werden können, muss mit einem Blick auf die Vergangenheit skeptisch beurteilt werden. Außerdem können unternehmerische Entscheidungen in einem Wettbewerbsumfeld vermutlich nur schwer durch konzertierte Aktionen ersetzt werden; soweit geht die Solidarität unter den Reifenhändlern sicher nicht. Eines scheint indes aber klar: Wer frühzeitig einen großen Teil seiner Ware vorbestellt und damit den Grundstock für das Saisongeschäft legen will, sollte diese Ware auch rechtzeitig erhalten, wenn er nicht an der Fähigkeit der Industrie zur Produktionsplanung zweifeln soll.

Die NEUE REIFENZEITUNG hat oft berichtet, dass derzeit beinahe alle Reifenhersteller ihre Produktionskapazitäten in und für Europa ausweiten. Ob Continental, Goodyear oder Michelin – die großen Reifenproduzenten in Deutschland investieren alle Millionenbeträge, um die Produktion nach den Kürzungen im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder zu steigern. Dies geht freilich nicht innerhalb weniger Monate. “Die Hersteller arbeiten alle an der Kapazitätsgrenze”, sagt etwa Norbert Busch. Der Leiter Marketing und Vertrieb für das Ersatzgeschäft der Continental AG in Deutschland, Österreich und der Schweiz reklamiert diesbezüglich auch für seinen Arbeitgeber keine Ausnahme von der Regel. Um das zu ändern, passe man in den bestehenden Werken in Europa die Kapazitäten “deutlich” an, so Busch weiter. Dass dazu auch in die deutschen Pkw-Reifenfabriken in Korbach und Aachen investiert wird, darf angenommen werden. Darüber hinaus plant der deutsche Hersteller bekanntermaßen seit einigen Jahren die Errichtung einer eigenen Reifenproduktion in Russland, die die in Europa bestehenden Werke nach Fertigstellung sicherlich weiter entlasten sollte. Man darf also aufseiten des größten deutschen Reifenherstellers – und auch seiner Wettbewerber – eine Entspannung der Angebotssituation in Zukunft erwarten. Außerdem müsse man bei den Lieferungen an die Kunden in der Erstausrüstung künftig ebenfalls mit einer Normalisierung rechnen, wodurch weitere Produktionskapazitäten für den hiesigen Ersatzmarkt verfügbar würden.

Dass wir nun bereits in naher Zukunft wieder den Überfluss anstatt den Mangel managen müssen, scheint zweifelhaft. Dass jedoch die Sell-out-Preise auch in 2011 weiter steigen, davon muss ausgegangen werden. Die spannende Frage bleibt, ob diese Steigerungen lediglich einer Weitergabe der höheren Sell-in-Preise – die Rohstoffkosten lassen grüßen – entspricht oder ob sich dabei auch die Margen im Reifenhandel verbessern lassen. Dies wird sich zeigen. Im Rahmen seines Preispanels geht der BRV jedenfalls von durchschnittlich um 4,1 Prozent steigenden Sell-out-Preisen bei Sommerreifen in Deutschland aus. Während die Händlerschaft bei Goodyear (+1,8 Prozent), Dunlop (+1,7 Prozent) oder Bridgestone (+1,8 Prozent) nur mit geringen Preissteigerungen rechnet, nimmt der BRV für die Marke Michelin auf Basis seines Preispanels eine Steigerung von 9,1 Prozent an, während die Sell-out-Preise von Pirelli-Reifen durchschnittlich noch um 6,5 Prozent steigen sollten (siehe Tabelle).

 

In diesem Zusammenhang muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass das BRV-Preispanel einen Bundesdurchschnitt unter Berücksichtigung des Nord-Süd- und des West-Ost-Gefälles abbildet und Preisspreitzungen von teilweise bis zu 25 Prozent nivelliert.

“Die Preiserhöhung von durchschnittlich 4,1 Prozent bei Pkw-Sommerreifen zum Stichtag 1. März 2011 im Vergleich zu 2010 hat seine Ursache in den entsprechenden Preiserhöhungen der Reifenhersteller, die vom Handel augenscheinlich so an die Verbraucher weitergegeben werden, wie sie seitens der Hersteller gegenüber dem Handel im ersten Schritt für 2011 durchgesetzt wurden”, ist BRV-Geschäftsführer Drechsler überzeugt. Dies entspricht auch der Empfehlung des Branchenverbands, der stets den “dringenden Appell” an seine Mitglieder richtet: Günstigere Einkaufspreise sollten nicht eins zu eins an Endverbraucher weitergegeben werden, Preissteigerungen indes schon. Dass der Reifenhandel seine gestiegenen Einkaufspreise wenigstens eins zu eins an seine Kunden weiterreicht, scheint aktuell der Fall zu sein, so jedenfalls ist aus verschiedenen Quellen auf verschiedenen Ebenen des deutschen Reifenmarktes zu hören. Gleichzeitig weist der BRV aber auch darauf hin, dass die Zahlen des Preispanels als “Vergleich für die eigenen Kalkulation” dienen soll, nicht als deren Ersatz, zu groß seien die Unterschiede im lokalen Wettbewerbsumfeld.

Sollten die Ergebnisse, die der BRV mit seinem aktualisierten Preispanel der NEUE REIFENZEITUNG vorrechnet, in der Tat eintreten, darf davon ausgegangen werden, dass sich die Durchschnittsergebnisse, also die Gewinne, der Reifenhandelsbetriebe von rund 2,3 Prozent vom Umsatz (2010; 2009: 0,4 Prozent) auch im laufenden Jahr weiter steigen lassen, steht der Reifenverkauf doch für durchschnittlich knapp 73 Prozent des Umsatzes. “Der positive Ertragstrend des Jahres 2010 muss sich unbedingt fortsetzen”, so der Verband Ende März zu seinem Betriebsvergleich. Fraglich bleibt dabei die Auswirkung einer besseren Verfügbarkeit von Reifen im Laufe dieses Jahres – der Markt könnte vom Verkäufer- wieder zum Käufermarkt kippen, was sich freilich negativ auf die Preisdisziplin auswirken dürfte.

Was Reifenhändler dank der entspannteren Ertragslage indes unbedingt berücksichtigen sollten, ist eines: Jetzt ist es an der Zeit, in die Zukunft der Betriebe zu investieren. Ob dies die Modernisierung und die Anschaffung neuen Equipments oder ob dies die Schulung und Entwicklung des eigenen Personals – gerade in ertrags- und wachstumsstarken Sortimenten wie UHP-/Runflatreifen – betrifft. Der nächste Abschwung kommt bestimmt. arno.borchers@reifenpresse.de

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