Juristenstreit um „geeignete Bereifung“

Pilot:Projekt: Ramsauer macht Druck/Neufassung bald

Verfassungswidrig sei sie, die „Situative Winterreifenpflicht“ – so urteilte das Oberlandesgericht Oldenburg. Die Entscheidung machte Schlagzeilen. Über die konkreten Folgen für Autofahrer, Justiz, Polizei und nicht zuletzt die Bundesregierung besteht noch keine endgültige Klarheit. Die Unternehmensberatung für Kommunikation „Pilot:Projekt“ (Hannover) hat Experten befragt, welche Folgen die Oldenburger Entscheidung für Autofahrer, Justiz, Polizei, Kfz-Versicherungen und den Gesetzgeber haben kann.

Geschockt, mindestens verärgert – so reagierten manche Vertreter der Reifenbranche auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Oldenburg, die so genannte situative Winterreifenpflicht sei verfassungswidrig. „Gänzlich abzuschätzen sind die Folgen noch nicht. Sicher ist aber: Im Winterreifengeschäft fällt ein sehr wichtiges Pfund im Verkaufsgespräch, der Verweis auf die Regelung in der Straßenverkehrsordnung, nun weg“, kommentierte Peter Hülzer, geschäftsführender Vorsitzender des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV), Bonn, in einer ersten Reaktion die Entscheidung des OLG. Zusätzlich befürchtete er „weit reichende Konsequenzen für unsere Branche.“

Was war passiert?

Die Richter des Senats für Bußgeldsachen des OLG Oldenburg hatten entschieden: Das gegen einen Autofahrer verhängte Bußgeld wegen Fahrens mit ungeeigneter Bereifung ist unrechtmäßig (Az. 2 SsRs 220/09). Stein des Anstoßes ist der § 2 Abs. 3 a der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Dort heißt es „… bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wetterverhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondere eine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel in der Scheibenwaschanlage.“ Dieser Wortlaut verstößt nach Meinung der Oldenburger Richter gegen das Bestimmtheitsgebot. Das heißt: Der Fahrer eines Kraftwagens kann nicht erkennen, was die StVO hier von ihm verlangt. Denn sie macht keine Angaben dazu, unter welchen „Wetterverhältnissen“ welche Pneus als „geeignete Bereifung“ gelten. Aus diesem Grund ist es für das OLG Oldenburg verfassungswidrig, Autofahrer wegen ungeeigneter Bereifung mit Bußgeldern von 20 Euro beziehungsweise 40 Euro und einem Strafpunkt in Flensburg zu belangen.

„Eine solche Entscheidung war leider zu erwarten, weil der § 2 Abs. 3 a StVO mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe enthält“, kommentiert Michael Borchert, Geschäftsführer Marketing und Vertrieb der Pirelli Deutschland GmbH, das Urteil. „Die Richter haben ihre Entscheidung schlüssig begründet, wenn sie darauf hinweisen, dass derzeit weder gesetzliche noch technische Vorschriften regeln, welche Eigenschaften Reifen für bestimmte Wetterverhältnisse haben müssen.“

Die Medienresonanz auf die Entscheidung des OLG Oldenburg war hoch: „Bußgeld für Sommerreifen im Winter verfassungswidrig“, „Situative Winterreifenpflicht verfassungswidrig“ – so lauteten die Überschriften zahlreicher Artikel, die in den vergangenen Wochen über das Thema berichteten. Allerdings hat bislang niemand darüber berichtet, welche Konsequenzen diese Entscheidung für die Politik als Gesetz- und Verordnungsgeber sowie für die Verkehrspolizei, die Verkehrsrichter, die Kfz-Versicherungen und natürlich die Autofahrer hat.

Die „Situative Winterreifenpflicht“ gilt weiterhin

Die wohl wichtigste Information für Autofahrer: Formaljuristisch gesehen wurde der § 2 Absatz 3a StVO und die daraus abgeleitete „Situative Winterreifenpflicht“ trotz des kategorischen Urteils „verfassungswidrig“ des OLG Oldenburg nicht aufgehoben! „Die in der StVO festgelegte Norm ist durch die Entscheidung des OLG Oldenburg nicht beseitigt worden“, betont Prof. Dr. Volker Epping, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht der Leibniz Universität Hannover. „Vielmehr handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung, die inter partes gilt, also nur für die an dem konkreten Rechtsstreit beteiligten Parteien. Sie besitzt keine allgemeine Gültigkeit.“

Bestätigung erfuhr Epping von Professor Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist heute Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er sagt: „Die Norm bleibt weiter gültig, bis sie vom Bundesverfassungsgericht verworfen oder aufgehoben wird.“ Davon unabhängig könnten in ähnlich gelagerten Fällen die Richter anderer Oberlandesgerichte den § 2 Absatz 3a StVO sehr wohl für verfassungskonform halten. Rein formaljuristisch gesehen wären auch dies dann wiederum Einzelfallentscheidungen.

Allerdings ist auch klar: Das OLG Oldenburg hat in seiner Entscheidung deutlich ausgesprochen, was unter Juristen bereits seit der Novellierung der StVO bekannt ist: Der Paragraph § 2 Absatz 3a StVO ist überaus schwammig formuliert. Die Berichterstattung in den Medien hat dies nun auch einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt. „Für den Reifenhandel wurde damit zumindest ein Argument für den Kauf von Winterreifen stark beschädigt, wenn nicht gar zunichte gemacht“, beurteilt Michael Borchert die negative Wirkung, die von dem Urteil des OLG Oldenburg auf einen Teil der Autofahrer ausgehen kann. „Daher müssen wir hoffen, dass die Autofahrer, nicht zuletzt auch geprägt durch die Erfahrungen des vergangenen harten Winters, weiterhin vernünftig handeln.“

Was das heißen muss, fasst Prof. Dr. Dietmar Otte, Leiter der Verkehrsunfallforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover, in einem Satz zusammen: „Aus Sicht der Unfallforschung gilt: Ein qualitativ guter Winterreifen mit ausreichender Restprofiltiefe von mindestens vier Millimeter gehört im Winter zur Standardausrüstung eines Fahrzeugs!“

Die Verkehrspolizei kontrolliert Reifen weiterhin

Wie wird sich die Verkehrspolizei vor dem Hintergrund der Entscheidung des OLG Oldenburg verhalten? Hier gehen die Meinungen auseinander: „Bei Verkehrskontrollen im kommenden Winter werden die Polizisten auf die Profiltiefe der Reifen achten, aber nicht mehr auf die M+S-Kennzeichnung. Das wurde ja nun durch das OLG Oldenburg geblockt“, erklärt Hans-Jürgen Marker, Leiter der Abteilung Verkehrspolitik in der Bundesgeschäftsstelle der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Hilden. „Wir sind also wieder auf dem Stand vor dem 1. Mai 2006, als der § 2 Absatz 3a StVO in Kraft trat.“

Wesentlich drastischer formuliert der nordrhein-westfälische GdP-Vorsitzende Frank Richter: „Dass Autofahrer in Zukunft bei Eis und Schnee ohne Winterreifen fahren dürfen, ist ein Skandal. Wir müssen die Möglichkeit haben, Autos mit Sommerreifen aus dem Verkehr zu ziehen.“ Daher müsse die Lücke in der StVO noch vor der Umrüstzeit geschlossen werden, „sonst gibt es im Winter Tote auf unseren Straßen“, fürchtet Richter.

„Nach dem Lesen des Oldenburger Urteils und verschiedener Stellungnahmen war zunächst davon auszugehen, die Verkehrspolizei und die Verkehrsgerichte würden bis auf Weiteres keine Bußgelder und Strafpunkte wegen einer ungeeigneten Bereifung verhängen“, sagt Michael Borchert. „Diese Einschätzung trifft allerdings formaljuristisch nicht zu.“ Inhaltlich aber werden die Richter zumindest im Wirkungsbereich des OLG Oldenburg auf dieses Urteil schielen. Und zweifelsohne werden sich betroffene Autofahrer bzw. deren Rechtsanwälte künftig schnell auf die Oldenburger Entscheidung berufen.

„Die Polizei in Baden-Württemberg wird – wie bisher auch – bei witterungsbedingten Störungen durch ungeeignete Bereifung einzelfallbezogen eine Anzeige an die zuständige Bußgeldstelle vorlegen, wenn ein Auto oder Lkw bei Schnee in Folge ungeeigneter Bereifung hängen bleibt“, erläutert Günter Loos, Sprecher des Innenministeriums Baden-Württemberg, das Vorgehen der Verkehrspolizei. „In allen anderen Fällen sind wir im Land bisher großzügig und werden weiterhin so verfahren, dass ohne Anlass kein Verwarnungsgeld ausgesprochen wird.“

Für das Land Nordrhein-Westfalen erklärt Heike Dongowski, Sprecherin des Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr: „Die Einzelfallentscheidung des OLG Oldenburg hat keine Auswirkung auf die Gültigkeit des § 2 Absatz 3a der StVO und keine Konsequenzen für die Verkehrspolizei und die Autofahrer. Und denkt man an den vergangenen Winter, wird klar: Winterreifen sind unverzichtbar. Das sollte jeder Autofahrer so sehen.“

Die Verkehrspolizisten in den Bundesländern werden also auch im kommenden Winter auf die geeignete Bereifung achten, ja achten müssen, wie Dr. Meinhard Schröder, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Papier, erläutert: „Die Verkehrspolizei darf – anders als ein Gericht – keine Normen unangewendet lassen. Daher muss sie davon ausgehen, dass die Straßenverkehrsordnung in Gänze weiterhin gültig ist und auf dieser Basis ihre Entscheidungen treffen.“

Verkehrsrichter bleiben in Entscheidung frei

Inwieweit sich Verkehrsrichter durch die Entscheidung des OLG Oldenburg in ihrer künftigen Urteilsfindung beeinflussen lassen, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Ein Mitglied des Präsidiums des Deutschen Richterbundes, Berlin, sagt dazu: „Es kann sein, dass der eine oder andere Verkehrsrichter im Bezirk des OLG Oldenburg dessen Entscheidung als Fingerzeig versteht und sein Urteil darauf abstellt. Andererseits bleibt jeder Richter selbstverständlich weiterhin frei und unabhängig in seinen Entscheidungen.“ Ein engagierter Richter werde sich nicht von der Möglichkeit beeinflussen lassen, dass ein OLG seine Entscheidung eventuell wieder aufhebt.

Inhalte der Kfz-Versicherungen bleiben unberührt

„Das OLG Oldenburg hat zum Bußgeld entschieden. Bußgeld ist eine rein öffentlich-rechtliche Angelegenheit, welche auf die Schadenregulierung keine Auswirkung hat“, erläutert Claudia Herrmann von der Allianz Deutschland AG, München. „Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung übernimmt den Schaden des Unfallopfers, auch wenn der Unfallverursacher mit ungeeigneten Reifen gefahren ist. Allerdings muss der Fahrer mit Regressansprüchen bis zu 5.000 Euro rechnen, wenn die ungeeignete Bereifung eine Risikoerhöhung war.“

Zum besseren Verständnis, wie Versicherungen das Thema Reifen handhaben, gibt Brigitte Römstedt von der R+V Versicherung AG, Wiesbaden, einige Beispiele aus der Kfz-Haftpflichtversicherung:

• Ein Sommerreifenfahrer steht an einer roten Ampel und der Unfallgegner fährt trotz Winterbereifung auf. Hier ist der Sommerreifenfahrer schuldlos.

• Bei einem Spurwechsel eines vorausfahrenden Autos kollidiert der dahinter fahrende Sommerreifenfahrer mit dem Fahrzeug. Ihm kann eine Mitschuld zugesprochen werden, da ein Bremsmanöver mit Winterreifen die Kollision verhindert hätte.

• Auf spiegelglatter Fahrbahn kommt der Sommerreifenfahrer an einer Kreuzung nicht rechtzeitig zum Stehen und fährt einem bevorrechtigten Fahrzeug in die Seite. Der Fahrer mit Sommerreifen trägt die alleinige Schuld an dem Unfall.

Ihr Fazit: „Grundsätzlich geht es bei der Frage Sommer- oder Winterreifen nicht nur um Versicherungsleistungen oder Geld, sondern vor allem um die Sicherheit des Fahrers, seiner Insassen und der anderen Verkehrsteilnehmer. Deshalb empfehlen wir grundsätzlich die Nutzung von Winterreifen.“

Bundesregierung lässt „Situative Winterreifenpflicht“ verfassungsrechtlich prüfen

Wie nun soll der Gesetzgeber verfahren? Den § 2 Absatz 3a StVO konkretisieren oder ihn streichen? „Er ist nicht unter Zugzwang“, kommentiert Maximilian Maurer von der Redaktion Recht des ADAC, München. Maurer wünscht sich aber, „bei einer kommenden Novellierung der StVO den Paragraphen zu präzisieren.“ Dies würde voraussetzen, dass der Begriff Winterreifen technisch definiert und der Begriff Wetterverhältnisse präzisiert wird. „Ist dies nicht möglich, sollte der Absatz gestrichen werden“, so der ADAC-Mann.

Tatsächlich befassen sich die Verkehrspolitiker in Bund und Ländern bereits seit Jahresbeginn mit dem Problem. Auf Grund der Erfahrungen des vergangenen harten Winters hatten Verkehrspolitiker der Länder Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) im Frühjahr aufgefordert, die Wirksamkeit des § 2 Abs. 3a der StVO prüfen zu lassen. Daraufhin diskutierte der zuständige Bund-Länder-Fachausschuss StVO/Ordnungswidrigkeiten auf seinen Sitzungen im Mai und Juni das Thema. Die Mitglieder kamen überein, zunächst abzuwarten, wie die Fachgremien der EU-Kommission mit Blick auf das Ende 2012 kommende EU-Reifenlabel die Richtlinien zu den Produkteigenschaften von Winterreifen festlegen würden.

Die Entscheidung der EU-Experten kennt Collin Scholz von Pilot:Projekt: „Ab November 2012 muss ein Reifen, wenn er typgeprüft wird und Winterreifen genannt werden soll, die Kriterien erfüllen, die aktuell bereits für die Vergabe des Schneeflockensymbols gelten.“ Mit diesem Symbol kennzeichnen die Hersteller von Premiumreifen bereits seit einigen Jahren ihre Winterreifen.

Minister Ramsauer macht Druck – drei Ministerien prüfen

Angesichts dieser Entscheidung der EU und vor dem Hintergrund des Urteils des OLG Oldenburg richten sich die Augen nun wieder auf den Gesetzgeber, konkret auf das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. „Wir nehmen den Beschluss des OLG Oldenburg, auch wenn es sich nicht um eine höchstrichterliche Entscheidung handelt, sehr ernst“, äußerte sich ein führender Ministerialbeamter gegenüber Pilot:Projekt. „Daher hat das Bundesverkehrsministerium die Angelegenheit dem Bundesministerium für Justiz und dem Bundesministerium des Innern am 11. August zur verfassungsrechtlichen Überprüfung übergeben. Die Stellungnahme wird derzeit abgewartet. Erst danach können wir entscheiden, wie weiter verfahren wird.“ In diesem Zusammenhang erfordere die neue EU-Verordnung zur Definition von Winterreifen eine Anpassung der StVO und der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO). Man werde das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Bund-Länder-Fachausschusses StVO/Owi mit den Ländern diskutieren. Allerdings sei das Abstimmungsverhalten im Fachausschuss angesichts der neuen Entwicklungen derzeit noch nicht relevant.

Das OLG Oldenburg selbst hat einen Vorschlag vorgelegt, wie der § 2 Absatz 3a der StVO für jedermann verständlich formuliert werden kann. Den Richtern zufolge kann der Begriff „Wetterverhältnisse“ auf „Wetterverhältnisse, bei denen Eis und/oder Schnee möglich sind“ beschränkt werden. Für diese Wetterverhältnisse könne dann – parallel zu § 18 der so genannten Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrzeugen im Personenverkehr (BOKraft) – vorgeschrieben werden, dass nur mit Winterreifen im Sinne des §36 StVZO gefahren werden darf. dv

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