Wird aus dem deutschen Winterreifenmarkt ein „englischer Patient“?

In diesem Herbst, wenn die sogenannte „Abwrackprämie“ ausgeschöpft sein wird, wird manches im deutschen Automobilmarkt anders sein als zuvor. Dass die Neuzulassungszahlen kollabieren, dürfte wohl auch ein unverhoffter Konjunkturaufschwung kaum verhindern. Die Vorzieheffekte beim Neuwagenkauf sind einfach zu stark, das durchschnittliche Fahrzeugalter konnte aufgrund des Erfolges von Klein- und Kompaktautos sowie Billigangeboten koreanischer Fahrzeughersteller oder einer Marke Dacia deutlich gesenkt werden. Aber auch reifenseitig wird die Branche, so ist zu erwarten, vor einer völlig neuen Situation stehen: die „Gebrauchtreifenproblematik“.

Wir beklagen hierzulande mangelndes Interesse der Verbraucher an den so sicherheitsrelevanten Bereifungen und klagen Reifenhersteller seit Jahren an, sie würden zu wenig in Sachen Werbung und Verbraucheraufklärung auf die Beine stellen, von einer gemeinsamen Branchenkampagne ganz zu schweigen: Bei der „Initiative PRO Winterreifen“ hat sich die Mehrheit der Reifenhersteller jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Diese einst mit Verve gestartete Initiative verlor wegen der berüchtigten „Partikularinteressen“ der Industriefirmen schnell an Schwung und verlor auch die erhoffte Vorbildfunktion für Nachbarländer. Leider wurde die „Initiative PRO Winterreifen“ kein Exportschlager.

Die deutschen Verbraucher haben erhebliche Defizite bezüglich Reifenbewusstsein. Da ist es nur sehr bedingt tröstlich, dass die Briten noch viel größere Reifenmuffel sind und noch eher als Paradebeispiel dafür taugen, wie wenig man sich für das Sicherheitsfeature Reifen interessiert. Und bezüglich Winterreifen haben sie sogar in gewisser Weise unser Verständnis, braucht man sie doch angesichts des milden Klimas nicht annähernd so dringlich wie hierzulande – außer in Schottland, versteht sich. Die Insellage und dem sanft und vor allem wohltemperiert vorbeiziehenden Golfstrom sei Dank.

Damit machen wir’s uns zu einfach, wie sich vermutlich schon in diesem Herbst herausstellen wird! Die mangelnde Reifenaffinität der Briten führt dazu, dass sie ein Segment haben, das hierzulande so klein ist, dass wir es manchmal vergessen zu erwähnen: Gebrauchtreifen. Volkswirtschaftlich mag es ja noch in gewisser Weise nachvollziehbar sein – wenn man denn dem Phänomen halbwegs positiv gegenüberstehen sollte –, dass die Reifen nicht zerstört werden, wenn sich ihre Profiltiefe dem gesetzlich vorgeschriebenen Wert nähert oder sie gar „thermisch genutzt“, also verbrannt werden. Man muss ja auch die andere Seite ernstnehmen, selbst wenn man ein entschiedener Gegner der Gebrauchtreifenunsitte ist. Zumal auch bei der Neureifenherstellung sehr viel Energie aufgewendet wird und man daher mit einer Energiebilanz hinsichtlich der energetischen Nutzung von Alt- oder Gebrauchtreifen besser sehr vorsichtig argumentieren sollte.

Mancher in Deutschland aussortierte Winterreifen wird noch einige tausend Kilometer auf einem Mietwagen auf den Kanarischen Inseln seinen Dienst tun, wie Reifenhändler zu berichten wissen, die dort Urlaub gemacht haben. Mancher in Großbritannien aussortierte Reifen – ob zur Spezies der Sommer- oder Ganzjahresreifen zu rechnen – wird weiterverkauft. In Deutschland passiert das im Allgemeinen nach dem Motto „Von Privat an Privat“, in Großbritannien haben auch zahlreiche Händler zusätzlich zu Runderneuerten und/oder billiger Fernostware auf der „Low-low-low-Budget-Schiene“ Gebrauchtreifen im Angebot.

Gestandene hiesige Reifenfachhändler werden sich das nicht nachsagen lassen wollen, bei Hinterhofbuden kann man da nicht so sicher sein. Und jede Wette: Bei Privatleuten wird sich aus Gründen der Kellerentrümpelung oder weil man den „Fuffi“ auch noch gebrauchen kann der Kleinanzeigenteil der örtlichen Tageszeitungen oder Wochenblätter mit Gebrauchtreifenangeboten noch stärker füllen als schon in der Vergangenheit bzw. werden andere Wege der privaten „Weitervermarktung“ gegangen. In diesem Herbst drohen gebrauchte Winterreifen das Reservat der engen Nische zu verlassen. Ernsthaft bekämpft hat die Unsitte des Gebrauchtreifenverkaufs auch bislang keiner, zu marginal war ihr Anteil.

Jetzt kommen gleich mehrere Faktoren zusammen, die die Branche ernstnehmen sollte. Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise sieht sich manch ein Verbraucher mit Automobil um, wo man noch einige außerplanmäßige und selbstredend legale Einnahmen erzielen kann; die Reifen liegen im Keller oder in der Garage nur unnütz rum, passen nicht zum aktuellen Auto und können also zu Geld gemacht werden. Das ist die Verkäuferperspektive, es gibt aber auch eine Käuferperspektive, die Begründung ist die gleiche, das Geld knapp, also wird nach Schnäppchen Ausschau gehalten. Da kommt das Angebot in der Tageszeitung gerade richtig, zumal mit dem Kürzel VB (Verhandlungsbasis) oder VS (Verhandlungssache). Da sollte doch ein Schnäppchen drin sein!

Seit einigen Jahren und – so jedenfalls die subjektive Wahrnehmung des Verfassers – erfolgt die Vermarktungsschiene „Von Privat an Privat“ auch via Internet, wobei oftmals mit dem zugkräftigen Namen einer Aluminiumräder- oder Premiumreifenmarke Kauflust geweckt werden soll. Die entsprechenden Portale von e-Bay und Co. haben nicht nur  einen Neureifenabsatzkanal geschaffen, sondern sind auch beliebt bei gebrauchten Artikeln, schließlich kennt ja jeder der mitreden will mindestens ein Beispiel, was er da schon erlebt hat, welche Schnäppchen möglich waren bzw. weiß um eher anrüchige Geschäfte. So haben sich ahnungslose Endverbraucher mit einer Affinität zu diesem Vertriebsweg schon mal die Augen gerieben, wenn just ihre gerade verkauften Schätzchen wenige Tage später zu einem deutlich höheren Preis wieder durchs World Wide Web geisterten. Warum wohl? Weil jemand daraus ein Geschäft gemacht hat!

Das ist dann zwar nicht mehr die „Von Privat an Privat“-Vermarktungsschiene, aber der gutgläubige Konsument wusste das halt nicht besser. Das Weiterschieben eines Reifensatzes innerhalb des Bekanntenkreises hingegen ist von solcherlei Überraschungen frei, je näher der Bekanntheitsgrad, desto eher kann sogar auf das „Vorleben“ des Reifens geschlossen werden, was eine wünschenswerte Information im Sinne der Verbrauchersicherheit wäre, aber insgesamt wohl eher selten ist. Der Vollständigkeit halber sei ein weiterer in dieses Umfeld passender Kanal genannt: Pinnwände beispielsweise in Supermärkten und auch manchen öffentlichen Einrichtungen. Hier kann jeder etwas anbieten, im Gegensatz zur Kleinanzeige sogar kostenlos und im Gegensatz zur Internetvermarktung auch für jedermann geeignet, der keinen PC zu Hause hat, ob als Verkäufer oder Käufer.

Bekanntlich haben sich viele Verbraucher im Rahmen der Abwrackprämie für ein „Downgrading“ bei der Wahl ihres nächsten Automodells entschieden: Ihr gerade von Fiat, Renault oder Volkswagen erworbener Neuwagen ist ein bis zwei Klassen kleiner als das verschrottete Auto, die ja eigentlich für den winterlichen Wechsel gehorteten Reifen passen nicht, müssen also weg. Mit dem Geld, das man dafür bekommt, kann man schon ein bis zwei Reifen eines neuen Satzes bezahlen, den man sich ja als „gesetzestreuer Bürger“ zulegen will – schließlich haben wir ja die „Winterreifenpflicht“.

All das reicht nicht aus, um den Gebrauchtreifen aus der Nische zu holen, sind Einzelerklärungen. Wohl aber könnte folgender Umstand ausreichen, um aus einer Petitesse des Marktes ein echtes Ärgernis zu machen: Viele Autos sind verschrottet worden, die Altautobranche aber pflegt sich jedes Auto anzugucken, was denn noch etwas taugt und zu Geld gemacht werden könnte. Und so werden die Winterreifen demontiert, die auf dem im Frühjahr zermalmten Auto montiert waren oder den Sommer bis zum Eintrudeln des mit Staates Unterstützung in Höhe von 2.500 Euro und zusätzlich satten Rabatten gekauften neuen Autos durchgefahren worden sind und noch fünf, sechs Millimeter Restprofil haben.

Und schon wissen wir, dass die Krankheit des „englischen Patienten“ ansteckend ist. Es besteht dann wahrlich kein Grund mehr zur Arroganz gegenüber Verbrauchern in anderen Ländern, die in der Reifensensibilität gegenüber den deutschen Konsumenten vermeintlich zurück sind. Und man kann auch schon fast ahnen, dass vereinzelt Marktteilnehmer nicht mehr „quasi unterm Ladentisch“ einen Satz Reifen „verticken“, weil der ja „noch gut ist“. Es bleibt zu hoffen, dass uns diese Entwicklungen weitgehend erspart bleiben und nur Ausdruck des Pessimismus einiger Marktteilnehmer sind. Der Verfasser dieser Zeilen würde sich gerne widerlegen lassen.

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