AlixPartners-Studie: Radikaler Umbau der Autoindustrie steht bevor

Die Automobilindustrie muss sich auf eine lange Durststrecke einstellen. Der Abbau des derzeit bestehenden Nachfrageüberhangs sowie ein verändertes Kundenverhalten werden dazu führen, dass der Fahrzeugabsatz in Europa selbst unter günstigen Bedingungen erst im Jahr 2014 wieder das Niveau vor der Krise erreichen wird. Die Branche kämpft zudem mit deutlichen Überkapazitäten und einem hohen Verschuldungsgrad. Dies zeigt die aktuelle Studie „Automotive Review 2009“ der auf Turnarounds und Ertragssteigerungsprogramme spezialisierten Unternehmensberatung AlixPartners. Die unausweichliche Konsolidierung der Branche werden diejenigen Unternehmen bestimmen, die heute aktives Liquiditätsmanagement betreiben, heißt es da. Sobald die Unternehmenspreise ein den gesunkenen Markt- und Ertragspotenzialen entsprechendes Niveau erreicht haben, werden solvente Branchenunternehmen und Finanzinvestoren für eine neue Welle von Akquisitionen in der Automobilindustrie sorgen.

Die Erholung der Automobilindustrie von der derzeitigen Krise wird deutlich länger dauern als erwartet. Sollte das Wachstum des Bruttosozialprodukts in der Euro-Zone innerhalb der nächsten zwölf Monate wieder das Niveau des Jahres 2007 erreichen, könnten 2014 die Verkaufszahlen des Jahres 2007 wieder erreicht werden, mit knapp unter 16 Millionen verkauften Neufahrzeugen. Erholt sich die Konjunktur nicht, fällt der europäische Automobilabsatz auch 2010 weiter. Dann würden im Jahr 2014 nur 13 Millionen Fahrzeuge verkauft werden können. Der dramatische Einbruch der Verkaufszahlen hat gemäß Studie zwei Ursachen: Zum einen gibt es einen deutlichen Nachfrageüberhang aus den vergangenen Jahren, der vor allem durch die Zinspolitik der Notenbanken verursacht wurde. Die günstigen Kredite hatten eine Entkopplung der Fahrzeugmärkte von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zur Folge. Zum anderen ändert sich aktuell das Käuferverhalten erheblich: Die Sparquote steigt, es werden weniger und kleinere Fahrzeuge gekauft. Dieses europäische Szenario trifft auch auf die USA zu. Dort hatten Anfang des Jahres bereits 45 Prozent von mehr als 5.000 befragten US-Konsumenten in einer AlixPartners-Umfrage („The New Normal“) angegeben, als Reaktion auf die Krise den Kauf neuer Autos verschieben zu wollen. Nur für Asien errechnet die Studie Zuwächse. Hier soll der Automobilabsatz von 20 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2009 auf 28,2 Millionen Fahrzeuge im Jahr 2014 steigen.

Industrie erwirtschaftet pro verkauftem Auto 1.800 Euro Verlust

Die Zahlen der AlixPartners-Studie sind alarmierend: Die in den letzten zwei Jahren erwirtschaftete Liquidität der Automobilwirtschaft ist nahezu aufgebraucht – so wird der Zahlungsmittelüberschuss in Höhe von 30 Milliarden Euro, den die Branche 2007 aufwies, durch Abfluss der liquiden Mittel bis Ende 2009 neutralisiert werden. Für 2010 wird ein negativer Cashflow in Höhe von über 40 Milliarden Euro prognostiziert. Der zentrale Grund liegt im Rückgang des Absatzes im vergangenen und im laufenden Jahr. Zwar entlasten die sinkenden Rohstoffpreise die Automobilbranche – so werden beispielsweise für die US-Hersteller verringerte Materialkosten pro Fahrzeug in Höhe von rund 500 bis 800 US-Dollar erwartet. Aber selbst das kann die Verluste nicht ausgleichen: Im Jahr 2009 wird die weltweite Automobilbranche pro verkauftem Auto im Schnitt rund 1.800 Euro Verlust verbuchen müssen.

Gefährdete Zulieferer

Akuten Problemen sehen sich nach den Ergebnissen der Studie insbesondere die Zulieferer gegenüber: Nach dem „AlixPartners Early Warning Model“ befanden sich 2008 etwa 22 Prozent aller europäischen Automobilzulieferer in Insolvenzgefahr. Bei einem allgemein prognostizierten Rückgang der Wirtschaft um zehn bis 20 Prozent wird diese Zahl im Jahr 2009 auf 30 bis 50 Prozent steigen. Durch die Krise öffnet sich die Schere zwischen erfolgreichen und existenzgefährdeten Unternehmen der Automobilbranche weiter: Die besten 25 Prozent der Zulieferer erreichen noch immer eine EBITDA-Marge von rund 15 Prozent – diese Kennzahl ist damit genauso hoch wie vor der Krise. Das unterste Viertel der Zulieferindustrie ist jedoch von knapp sieben Prozent EBITDA-Marge auf vier Prozent abgerutscht. Dies reicht nicht aus, um überleben zu können; der ROCE, die Rendite auf das eingesetzte Kapital, und der Free Cashflow sind bei dieser Gruppe negativ. Die Studie zeigt, dass die europäische Automobilbranche nur über wenig mehr flüssige Mittel verfügt als die amerikanische. Besser geht es den asiatischen Zulieferern und Automobilherstellern. Dennoch gibt es in Deutschland in allen Segmenten Zulieferer, die gut dastehen.

Weltweit erhebliche Unterschiede

Am stärksten unter der Strukturkrise leiden die USA mit branchenweiten Umsatzverlusten (einschließlich Zulieferindustrien) von minus 23,1 Prozent gefolgt von Westeuropa mit minus 12,5 Prozent. Einige nationale Märkte wie Russland und Brasilien brechen sogar um bis zu minus 45 Prozent ein. In China verlangsamt sich das Wachstum auf plus 5,8 Prozent. Insgesamt leiden Automobilhersteller stärker unter der Krise als Zulieferer. Besonders betroffen sind die Hersteller von Premiumfahrzeugen. Verbraucher bevorzugen derzeit kleinere Fahrzeugklassen und weniger Ausstattung, was – wenn dieser Trend anhält – mittelfristig einen kumulierten Margenrückgang von vier Prozent für die Automobilhersteller erwarten lässt.

Massive strukturelle Überkapazitäten

Wie die Zahlen der Studie zeigen, haben auch billige Konsumentenkredite der vergangenen Jahre zur Krise der Automobilindustrie beigetragen: Bewegte sich die Absatzkurve von Automobilen in der Vergangenheit stets mit dem Bruttosozialprodukt auf und ab, so änderte sich das ab etwa 2002 – der Zeit des „billigen Geldes“. In dieser Zeit verkauften die Autohersteller weiterhin Jahr für Jahr allein mehr als 14 Millionen Pkw in Europa und schufen so eine kreditfinanzierte Marktübersättigung. Ein ähnlicher Effekt ist für die Zukunft auch von den staatlichen Autoabsatzprogrammen zu erwarten. Vinzenz Schwegmann, Managing Director bei AlixPartners und Leiter des European Automotive Teams, sagt: „Die eigentliche Krise der Autoindustrie steht erst noch bevor – wenn die Anreizprogramme der Regierungen auslaufen, ist die wahre Stunde Null.“ Das hat nach Erkenntnissen der Studie seinen Grund aber auch in der Automobilindustrie selbst: Die Auslastung der Produktionslinien lag bereits vor der Krise bei lediglich 80 Prozent – nun sind es vielfach weniger als 65 Prozent. Die Folgen der Überkapazitäten waren indes bereits vor der Wirtschaftskrise sichtbar: Im Gegensatz zu anderen Sektoren stagnierten die Preise in der Automobilindustrie oder fielen sogar leicht. Seit 2003 sind beispielsweise die Preise im Ausbildungssektor um 35 Prozent gestiegen, im Medizinsektor um 25 Prozent und im Ernährungssektor um immerhin noch 20 Prozent. Vinzenz Schwegmann: „Rabattprogramme oder „stille“ Rabatte in Form von gehobener Ausstattung zum Nulltarif sind keine langfristige Lösung. Die globale Wirtschaftskrise hat einige Unternehmen der Autoindustrie nur schneller in das Ende der Sackgasse geführt – falsch abgebogen sind sie schon vorher.“

Automobilzulieferer: Die Liquiden kaufen die Illiquiden

Aus dieser Sackgasse führt nach den Erkenntnissen der AlixPartners-Studie nur ein Weg: Eine umfassende Branchenkonsolidierung. Insbesondere Zulieferer können die kommende Konsolidierung ihrer Branche aktiv gestalten, sei es in Form einer Akquisition oder in Form von Fusionsgesprächen. Die einzige Alternative dazu ist, passiv Opfer der Konsolidierung zu werden. Schwegmann ist überzeugt: „Um nachhaltig gesunden zu können, muss die Automobilindustrie ihre Fertigungskapazitäten an das zu realisierende Absatzvolumen anpassen.“ Schwegmann sieht darin einen Paradigmenwechsel: „In der Vergangenheit hieß es „die Großen fressen die Kleinen“, mit dem Internetboom änderte sich diese Devise in „die Schnellen fressen die Langsamen“. Heute kann man sagen: „Die Liquiden fressen die Illiquiden“.“

Produktionsverlagerung in „Low-Cost-Countries“ allein keine Alternative

Untersucht wurden auch Ausweichstrategien, beispielsweise die Produktionsverlagerung in sogenannte „Low-Cost-Countries“. Das Ergebnis ist überraschend: Der Kostenvorsprung vieler Niedriglohnländer ist nach dem „AlixPartners Manufacturing Outsourcing Cost Index“ stark gesunken. Dies betrifft vor allem den deutlich teurer gewordenen Standort China. Zwischen China und den USA beträgt der „landed cost“-Unterschied jetzt nur noch fünf Prozent. Im „landed Cost“-Faktor sind nicht nur die Produktionskosten enthalten, sondern auch Kosten für Transport, Frachtversicherung und weitere Nebenkosten wie beispielsweise Zölle sowie Währungseffekte – also die dem Unternehmen tatsächlich entstehenden Kosten. „Die Strategie, bei Problemen in sogenannte Billiglohnländer auszuweichen, um Waren zu reimportieren, funktioniert künftig nicht mehr“, so Schwegmann. Im Vergleich zu den europäischen Fertigungskosten gilt Ähnliches wie für die USA, wenn auch der starke Euro die Rechnung hier derzeit noch etwas ungünstiger aussehen lässt. Diese Entwicklung bedeutet, dass die Regierungen der Industrieländer nicht mehr grundsätzlich um den Verlust ihrer industriellen Kerne bangen müssen.

Großes Liquiditätspotenzial

Europäische Zulieferer haben in der Gesamtschau große Potenziale, um zusätzliche Liquidität – auch für Akquisitionen – freisetzen zu können: Bei den Beständen beispielsweise sind die amerikanischen und asiatischen Zulieferer gegenüber ihren europäischen Konkurrenten nach wie vor um bis zu 50 Prozent schlanker. Riesig sind auch die Unterschiede zwischen den effektivsten und den weniger effektiven Anbietern. „Für einen größeren mittelständischen Zulieferer in Europa errechnen sich daraus ungenutzte Liquiditätsreserven von mehreren Dutzend Millionen Euro, wenn die Lücke zur Spitzengruppe geschlossen wird. Gleiches gilt für das in Forderungen und Verbindlichkeiten gebundene Kapital.“

Neue Investoren in Sicht – auch Private Equity bieten sich große Chancen

Mittelfristig sind gemäß der Studie Marktbereinigungen und Konsolidierungen zu erwarten. „Selten waren Akquisitionen in der Automobilbranche so erfolgversprechend wie jetzt“, sagt Schwegmann. „Die Top-Zulieferer, die noch Liquidität und Kreditlinien haben, sollten über interessante Ergänzungen nachdenken oder darüber, Konkurrenten und Kapazität vom Markt zu nehmen. Und Unternehmen, die in schwere See zu geraten drohen, sollten rechtzeitig nach starken Partnern Ausschau halten, bevor ihnen keine Wahl mehr bleibt.“ AlixPartners rechnet in diesem Zusammenhang auch mit einem Comeback der Private Equity-Investoren. Automobilexperte Schwegmann: „Noch haben die Verkäufer zu hohe Preisvorstellungen, die sich an den alten Markterwartungen orientieren. Doch sobald sich das gesunkene Potenzial des Marktes auch in den Unternehmensbewertungen widerspiegelt, wird neues Kapital in die Automobilbranche fließen – Mobilität bleibt ein Grundbedürfnis und wird daher auch realistische Renditen erwirtschaften.“

Die Studie

Die AlixPartners Automotive Review 2009 beruht auch einer Benchmark-Analyse von 275 Zulieferern, 45 Automobilherstellern und 23 Lkw-Herstellern. Europa ist darin mit 59 Zulieferern, sieben Automobilherstellern und vier Lkw-Herstellern vertreten. Zudem wurden öffentlich verfügbare volkswirtschaftliche Daten und Prognosen verwendet. „Manufacturing Outsourcing Cost Index“ und „Early Warning Model“ sind Trademarks von AlixPartners.

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