Rollwiderstand/Nassbremsen: Sowohl als auch statt entweder oder

Die EU-Kommission plant, nicht nur die Grenzwerte hinsichtlich des Reifenabrollgeräusches zu verschärfen, sondern will zukünftig offensichtlich auch Vorgaben hinsichtlich des Rollwiderstandes von Reifen machen. Ziel der Politik ist es, damit einerseits den von der Straße ausgehenden Verkehrslärm zu reduzieren und andererseits die Reifenindustrie zudem in Sachen Absenkung der verkehrsbedingten Kohlendioxidemissionen in die Pflicht zu nehmen. Denn – so das Kalkül – rollwiderstandsärmere Reifen sorgen für einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch und damit gleichzeitig geringere Emissionen an Kohlendioxid, das in Verdacht steht, zu einer Erhöhung der globalen Temperatur und darüber hinaus zum befürchteten weltweiten Klimawandel beizutragen. In diesem Zusammenhang stoßen bei Teilen der Branche insbesondere die vonseiten der EU-Kommission ins Spiel gebrachten Grenzwerte für den Reifenrollwiderstand nicht gerade auf viel Gegenliebe. Befürchtet wird, dass eine einseitige Auslegung von Reifen im Hinblick auf einen niedrigen Rollwiderstand auf der anderen Seite einen längeren Bremsweg nach sich ziehen könnte, was letztlich zulasten der Sicherheit ginge. Laut Michelin muss dem allerdings nicht zwangsläufig so sein. Mittels entsprechend fortschrittlicher Technologie – so der Hersteller, der seit 1992 das Konzept des „grünen“ Reifens propagiert – sei es durchaus möglich, einen niedrigen Rollwiderstand und ein gutes Nassbremsverhalten unter einen Hut zu bringen sowie zugleich sogar noch eine höhere Laufleistung zu realisieren.

In den vergangenen Monaten sind die Überlegungen der EU-Kommission in Sachen Reifenrollwiderstand insbesondere bei Continental immer wieder auf Kritik gestoßen, befürchtet der deutsche Hersteller doch anscheinend, dass über die Forderung nach rollwiderstandsärmeren Pneus die Sicherheit bei Nässe in den Hintergrund gedrängt werden könnte. Neben Dr. Burkhard Wies, Leiter der Pkw-Reifenentwicklung für das weltweite Ersatzgeschäft bei dem Unternehmen mit Sitz in Hannover, der erst kürzlich in diesem Sinne warnend den Finger gehoben hatte, äußerte sich Finanzvorstand Dr. Alan Hippe, der im Vorstand des Konzerns seit April zusätzlich noch der Pkw-Reifendivision als Chef vorsteht, in einem Interview mit der Automobilzeitschrift Auto Motor und Sport jüngst ganz ähnlich und sprach von einem „Zielkonflikt zwischen Rollwiderstandsoptimierung und damit Kohlendioxidreduktion auf der einen Seite und dem Nassbremsen und damit Sicherheit in kritischen Situationen auf der anderen Seite“. Seinen Worten zufolge sei Conti beim Thema Rollwiderstand zwar sehr gut positioniert, aber man werde keine Kompromisse zulasten der Sicherheit machen. „Die Reifenentwicklung darf nicht in die falsche Richtung protegiert werden“, wird zudem Hans-Jürgen Drechsler, Geschäftsführer des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk e.V. (BRV), in einem AutoBild-Beitrag unter dem Titel „Umweltschutz kontra Sicherheit“ zitiert.

Glaubt man demgegenüber den Ausführungen Michelins, muss eine Entweder-oder-Entscheidung wie vielleicht noch Anfang der 90er Jahre, als die Franzosen schon ihre ersten „grünen“ Reifen auf den Markt brachten, allerdings gar nicht getroffen werden. Dank modernster Technologie sei vielmehr ein Sowohl-als-auch-Ansatz bei der Entwicklung von neuen Reifen realisierbar. Mehr noch: Dank der umfangreichen seither gesammelten Erfahrungen, innovativer Materialien sowie ausgeklügelter Fertigungsprozesse gelingt es dem Reifenhersteller aus unserem Nachbarland eigenen Aussagen zufolge auch gleich noch, die Laufleistung seiner Reifen nicht aus dem Blick zu verlieren bzw. bezüglich dieses Parameters der Konkurrenz ein Stück voraus zu sein. Insofern verfolge man einen noch „breiteren Ansatz“ in Sachen Schonung der Umwelt, wie es Pierre Menendes, der seit 37 Jahren für Michelin arbeitet und in der Konzernzentrale in Clermont-Ferrand für den Bereich technische Kommunikation verantwortlich zeichnet, im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG formuliert. „Denn was nutzt der hinsichtlich Rollwiderstand und Nassbremsen beste Reifen, wenn er aufgrund einer deutlich geringeren Laufleistung viel früher ersetzt werden muss?“, fragt Menendes mit Blick auf die zur Fertigung eines Reifens benötigten Energie und Rohstoffe.

„Die Laufleistung nicht mit einzubeziehen, heißt nicht die volle Wahrheit zu sagen“, meint Menendes. Vor dem Hintergrund der Ressourcenschonung sei ein langlebigerer Reifen also die für die Umwelt bessere Wahl. Natürlich umso eher, wenn er sich gleichzeitig noch durch einen niedrigen Rollwiderstand und ein gutes Nassbremsverhalten auszeichnet. Doch laut Menendes geht es dem Hersteller aus Frankreich beim Thema Rollwiderstand nicht allein darum, die Marke Michelin zu promoten, sondern vor allem darum, „dem Verbraucher alles zu sagen“. Ein zusätzlicher Anlass dafür ist seinen Worten zufolge die verstärkte Fokussierung der Medien auf den Kraftstoffverbrauch von Fahrzeugen bzw. deren Kohlendioxidemissionen in der jüngeren Vergangenheit. „Vor diesem Hintergrund wird mehr und mehr über den Einfluss der Bereifung auf den Kraftstoffverbrauch berichtet, aber nur wenige kennen die dahinterstehenden Zusammenhänge“, meint Menendes. Bei Michelin rede man zwar schon seit Jahren über den Rollwiderstand von Reifen, aber bis vor Kurzem noch habe dies kaum jemanden wirklich interessiert – so als rede man mitten im heißesten Sommer über das Skifahren. „Und wenn jetzt über das Thema berichtet wird, dann meistens über die Unvereinbarkeit eines niedrigen Rollwiderstandes mit einem guten Nassbremsverhalten“, ärgert er sich.

„Dabei gibt es rund um die Entwicklung von Reifen mehr als nur diese beiden Parameter“, ruft er ein weiteres Mal die – seiner Erfahrung nach auch dem Endverbraucher wichtige – Kilometerlaufleistung in Erinnerung. „In den Medien (außer Fachpresse) wird generell gesagt, dass sich der Kunde zwischen Umweltschutz und Sicherheit entscheiden muss. Dies mag für Billigreifen zutreffend sein, aber bei den Premiumreifen muss man dies doch differenzierter sehen. Was die Kosten betrifft, zählt praktisch nur der Kaufpreis, womit die Laufleistung links liegen bleibt“, pflichtet ihm Thomas Hermann, Direktor Kommunikation für die Region Deutschland/Österreich/Schweiz bei Michelin in Karlsruhe, bei. „Jeder Reifenhersteller kann seine Produkte hinsichtlich eines einzigen Parameters optimieren. Sind gleichzeitige Verbesserungen bezüglich zweier oder mehrerer gefragt, wird die Sache schon schwieriger“, ergänzt Pierre Menendes. Insofern sei nicht alles komplett falsch, was in jüngster Vergangenheit den verschiedensten Medien zu entnehmen war. Doch zumindest falle dabei meist der Aspekt der Laufleistung unter den Tisch, und der Zielkonflikt zwischen niedrigem Rollwiderstand und gutem Nassbremsen eines Reifens existiere nur, wenn in diesem Zusammenhang konventionelle Reifentechnologie gemeint sei, fasst er den Michelin-Standpunkt zusammen.

Doch was genau versteht man bei dem französischen Konzern denn nun unter einer fortschrittlichen Reifentechnologie? Klar ist so viel: Vom Himmel fällt so etwas nicht, sondern es braucht offensichtlich schon einiges an Erfahrung. „Die erste Generation von Reifen mit einem niedrigeren Rollwiderstand war beim Bremsen tatsächlich schlechter als konventionelle Reifen“, so François Montfort rückblickend. Laut Montfort, dessen Aufgaben bei Michelin weniger der Entwicklung einer bestimmten Produktlinie zugeordnet als vielmehr besser mit dem Wort Grundlagenforschung beschrieben werden können, sei mit entsprechenden OE-Reifen beispielsweise dem Lastenheft von US-Fahrzeugherstellern Rechnung getragen worden und man hätte damals – vor allem auch wegen der so ganz anderen Straßenverhältnisse als in Europa – mitunter auch Abstriche in Sachen Nassgrip in Kauf genommen. „Solche Reifen würden hier in Europa von den OEMs abgelehnt. In Europa werden schließlich die weltweit höchsten Anforderungen an Reifen gestellt. Und das in allen Bereichen“, weiß Montfort.

Er verweist zudem darauf, dass Michelin seit 1992 Erfahrung mit der Entwicklung von „grünen“ Reifen gesammelt hat, und schätzt deshalb den Vorsprung, den man bezüglich derartiger ressourcenschonender Reifen gegenüber dem Wettbewerb hat, auf etwa fünf Jahre. Seinen Worten zufolge zähle der Konzern heute bereits rund 85 Prozent aller Pkw-Reifen in der eigenen Produktpalette zu dieser Kategorie. Um aber einen niedrigen Rollwiderstand bei gleichzeitig möglichst kurzen Bremswegen bei Nässe und einer hohen Kilometerlaufleistung realisieren zu können, bedarf es zunächst einmal jedoch eines grundlegenden Verständnisses der Prozesse beim Abrollvorgang, um im nächsten Schritt dann das Verhalten gezielt beeinflussen zu können. Als Beispiel stellt Montfort im Gespräch mit dieser Fachzeitschrift das freie Rollen eines Rades und den Bremsvorgang gegenüber.

Im ersten Fall kommt es beim Durchlaufen des Latschbereiches zu einer Verformung des Reifens und damit durch die dabei verrichtete Arbeit intern zu einer Erwärmung des Reifenmaterials. Die anfallende Verlustleistung hemmt die Rollbewegung (Rollwiderstand), was umgekehrt bedeutet, dass zu dessen Aufrechterhaltung Energie von außen zugeführt werden muss. Je mehr Energie/Wärme aufgrund der Verformung des Reifens im Material anfällt, desto mehr muss (beispielsweise durch den Motor des entsprechenden Fahrzeuges) dem entgegengesetzt werden, was letztlich zu einem höheren Kraftstoffverbrauch führt. „Beim Bremsen kommt es auch zu einer Verformung des Reifens beispielsweise etwa der Profilblöcke. Doch für die Länge des Bremsweges spielen Adhäsionseffekte zwischen Gummi und Fahrbahn die entscheidende Rolle. Im Gegensatz zum freien Rollen, wo sich die Effekte aufgrund der Verformungen beim Latschdurchlauf im Frequenzbereich von um die 15 Hertz bei 100 km/h abspielen, sind beim Bremsvorgang viel höhere Frequenzen im Bereich von 100 Kilohertz ausschlaggebend“, nennt Montfort einen weiteren Grund, warum man mit ein wenig Know-how eben doch beide Reifeneigenschaften zugleich verbessern könne.

Für das, was sich da reichlich theoretisch anhört, kann er aber sogleich Konkreteres nachschieben. So könne man beispielsweise durch eine Reduzierung des Reifengewichtes den Rollwiderstand verringern. „Wenn weniger Masse beim Durchlaufen des Latschbereiches verformt wird, bedeutet dies zugleich eine geringe Erwärmung im Inneren des Materials und damit einen kleineren Rollwiderstand“, so Montfort. Deshalb soll zum Beispiel der aktuelle „Energy Saver“ um die zehn Prozent bzw. rund 800 Gramm leichter sein als die vorherige Generation vergleichbarer „Energy“-Reifen aus dem Hause Michelin. Weiterer Ansatzpunkt: die Laufflächenmischung. Dabei – sagt Montfort – spiele nicht nur der hohe Anteil an Silica (er spricht von einem Wert von 95 Prozent) eine Rolle, sondern eine viel wichtigere falle der Interaktion des Silica mit anderen Polymeren des Materials zu. Außerdem komme es auch auf den Mischungsprozess selbst an, weshalb Michelin seinen Aussagen zufolge nicht nur sämtliche Polymere selbst herstellt, sondern darüber hinaus bei deren Mischung ebenfalls auf exklusive In-House-Technologie zurückgreift.

„Je feiner das Material und je gleichmäßiger dessen Durchmischung desto besser“, liefert Montfort zugleich eine Erklärung dafür, warum der Konzern kontinuierlich in die Fertigung mit Silica investiert. „Es ist relativ einfach, nur einen guten Reifen zu bauen. Schwieriger wird es, wenn man dies in millionenfacher Stückzahl macht“, ergänzt Menendes. All diese Zusammenhänge dem Verbraucher zu vermitteln, sei jedoch nicht einfach. „Reifen sind zwar kein billiges Produkt, doch für die meisten Leute einfach nur schwarz, rund und ziemlich langweilig“, kann Menendes verstehen, warum viele Medien Geschichten etwa rund um eine Laufleistungsgarantie von 150.000 Kilometern zwar wahrscheinlich ganz breit aufziehen würden, sich für die Fortschritte bezüglich eines niedrigeren Rollwiderstandes bis vor Kurzem jedoch kaum jemand interessierte. Deshalb fühlt man sich bei Michelin dazu berufen, zur Aufklärung des Verbrauchers beizutragen, und solchen Aussagen, dass ein niedriger Rollwiderstand im Widerspruch zur Nassbremssicherheit stehe, entgegenzutreten.

Pierre Menendes lässt in diesem Zusammenhang natürlich nicht unerwähnt, dass sich gerade mithilfe des „Energy Saver“ bei vorsichtiger Abschätzung eine Kraftstoffeinsparung von mindestens 0,2 Litern je 100 Kilometer, aber eher wohl sogar das Doppelte dessen realisieren lasse. Und dies bei gleichzeitiger Reduzierung der Kohlendioxidemissionen eines damit bereiften Fahrzeuges um vier Gramm je Kilometer und einer Laufleistung von etwa 45.000 Kilometern im Vergleich zu einem Branchendurchschnittswert von 32.000 Kilometern, wobei er all dies auf die einfache Formel „1-4-1“ bringt. „Die Kraftstoffeinsparung über die Lebensdauer der Reifen entspricht dem Preis eines Reifens von vieren, vier Gramm Kohlendioxid weniger gelangen je gefahrenem Kilometer in die Atmosphäre und die Reifen lassen sich – bezogen auf eine europaweit durchschnittliche jährliche Fahrleistung von 12.000 bis 13.000 Kilometern – ein Jahr länger fahren“, erklärt er die Lesart dieser Formel.

Da Papier aber bekanntlich geduldig ist, hat der Reifenhersteller – quasi als Beleg für seine Aussagen – sein neuestes Produkt vom TÜV Süd einem Vergleich mit Reifen des Wettbewerbs unterziehen lassen: in Sachen Nassbremsen, Rollwiderstand und eben auch Kilometerlaufleistung. Die im April und Mai dieses Jahres durchgeführten Nassbremstests von 80 km/h bis hinunter auf 20 km/h sollen gezeigt haben, dass der „Energy Saver“, der dabei in den drei Dimensionen 195/65 R15 91H, 195/65 R15 91V und 205/55 R16 91V jeweils gegen sechs Wettbewerbsfabrikate anzutreten hatte, mit zu den besten gehört und zugleich bezüglich des Rollwiderstandes in allen drei Größen ganz vorne liegt. Zudem ist der TÜV Süd mit einer Fahrzeugflotte von identischen Skoda Octavia jeweils 14.000 Kilometer bereift mit den beiden Reifengrößen 195/65 R15 91H sowie 205/55 R16 91V unterwegs gewesen, um daraus Rückschlüsse auf die zu erwartende Laufleistung ziehen zu können. Gleichzeitig wurde dabei der Verbrauch der Fahrzeuge gemessen. In beiden Kriterien hat der „Energy Saver“ dabei laut Messprotokoll die Konkurrenz hinter sich lassen können. Angesichts der Ergebnisse des TÜV Süd sieht sich der Reifenhersteller in seiner Auffassung bestätigt, dass sich ein niedriger Rollwiderstand, gutes Nassbremsverhalten und hohe Laufleistung eben tatsächlich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen müssen.

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