Sind Winterreifen „ein Sicherheitsrisiko“?

Vor rund zwei Jahren hatte die „Sieben-Grad-Lüge“ für gehörig Unruhe und reichlich Diskussionsstoff in der Branche gesorgt. Unter der Überschrift „Eiskalter Schwindel“ erschien damals nämlich ein Beitrag im Spiegel, in dem den Reifenherstellern ein Betrug am Endverbraucher vorgeworfen wurde. Winterreifen seien nicht generell unterhalb von sieben Grad und insbesondere auf trockenen Fahrbahnen nicht leistungsfähiger als Sommerreifen, so der Tenor des Spiegel-Artikels. Nachdem das Thema nicht lange danach mehr oder weniger wieder aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden ist, könnte ein unter dem Titel „Winterreifen – ein Sicherheitsrisiko?“ in der November-Ausgabe der im Vieweg-Verlag erscheinenden Zeitschrift VKU – Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik veröffentlichter Beitrag die Diskussion durchaus wieder anheizen. „Die pauschale Behauptung, unterhalb von sieben Grad Celsius seien Winterreifen generell besser als Sommerreifen, ist ein Märchen“, lautet nämlich das Fazit von dessen Autoren Marco Stelter, Cand.-Ing. im Fachbereich Maschinenbau/Fahrzeugtechnik der Fachhochschule Stralsund, und Hansjörg Leser, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Straßenverkehrsunfälle bei der Unfallanalyse Berlin, nach der Auswertung systematischer Bremsversuche mit unterschiedlichsten Fahrzeug-Reifen-Kombinationen. „Jedenfalls bei Temperaturen zwischen etwa null Grad Celsius und sieben Grad Celsius ist keine Überlegenheit der Winterreifen festzustellen“, heißt es weiter in dem Artikel.

Diese Aussage wird aus den Ergebnissen von Verzögerungsmessungen mit einem weiten Spektrum unterschiedlicher Pkw, Fahrbahnen und Temperaturen unter Einsatz von Reifen diverser Hersteller abgeleitet. „Alle bisher durchgeführten Tests kranken daran, dass es sich um mehr oder weniger isolierte Einzelversuche handelte – meist mit nur einem Fahrzeug und einem Bereifungspaar“, wird dieser breite Ansatz bei den Tests begründet, an denen mehrere Sachverständigenbüros aus ganz Deutschland beteiligt waren. Von den Autoren selbst wurden demnach acht Fahrzeuge getestet, die Mitarbeitern der Unfallanalyse Berlin gehören. Die involvierten Ingenieurbüros steuerten Messungen mit weiteren sieben Fahrzeugen bei, sodass im Rahmen der Studie auf 15 vergleichbare Versuchsreihen mit 15 unterschiedlichen, samt und sonders mit ABS ausgerüsteten Fahrzeugen (Skoda Fabia, Seat Toledo, Ford Fiesta, Mazda 6, Opel Astra, Kia Sorento, Mitsubishi Space Star, Mercedes A-Klasse, VW Golf, Peugeot 406, Audi A4) und Reifen der Marken Bridgestone, Continental, Dunlop, Firestone, Fulda, Hankook, Goodyear, Michelin, Pirelli und Viking – angefangen bei der Dimension 165/70 R13 über 195/65 R15 bis hin zur Größe 245/70 R16 – zurückgegriffen werden konnte. Bei Fahrbahntemperaturen zwischen minus sieben und plus sechs Grad Celsius wurden mit jedem Fahrzeug mehrmalig Messungen mit Sommer- und Winterreifen durchgeführt.

Die Tests wurden auf einer Messstrecke in Berlin absolviert, wobei die Ausgangsgeschwindigkeit vor Einleiten der Bremsung den Angaben zufolge jeweils 50 km/h betragen hat und dann mittels eines Unfalldatenspeichers bzw. eines so genannten „XL-Meter-Pro“ die Verzögerungswerte aufgezeichnet wurden. „Nachdem die Bremsversuche mit den Sommerreifen abgeschlossen waren, wurden die Winterreifen montiert. Bei den meisten Versuchsfahrzeugen fand dieser Reifenwechsel noch auf der Versuchsstrecke statt. Bei den anderen Fahrzeugen wurden die Reifen zeitnah in einer Werkstatt montiert und anschließend die Bremsung auf derselben Versuchsstrecke durchgeführt. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass für jedes Versuchspaar mit Winter- und Sommerbereifung jeweils identische Testbedingungen vorlagen“, wird in der Fachzeitschrift, die sich an Kraftfahrzeugsachverständige, Experten für Straßenverkehr, Kfz-Technik und Transportsicherheit richtet, die weitere Vorgehensweise bei den Versuchen beschrieben. Als Beginn der Bremsung habe man das Erreichen der halben Schwellzeit definiert, als Ende den Stillstand des Fahrzeugs, um dann über die in diesem Bereich gemessenen Verzögerungswerte zu mitteln. „Der Einfluss des Nickwinkels wurde nicht berücksichtigt. Da jedoch beide Reifentypen mit jeweils demselben Messverfahren am jeweils gleichen Fahrzeug getestet wurden, wird der Vergleich der Reifentypen davon nicht beeinflusst“, erklären die Autoren des Beitrags.

Bei acht von 15 Versuchspaaren haben die Tester mit den Sommerreifen eine höhere Bremsverzögerung als mit Winterreifen gemessen. Die Temperaturen bei diesen Versuchen haben zwischen minus zweieinhalb Grad Celsius und plus sechs Grad Celsius gelegen. „Sechs der sieben Versuche, bei denen die Winterreifen besser waren, lagen im gleichen Temperaturbereich (minus ein Grad Celsius bis plus sechs Grad Celsius), einer bei minus sieben Grad Celsius. Man kann vermuten, dass bei wirklich hartem Frost sich das Bild zugunsten der Winterreifen ändern würde“, werden diese Ergebnisse kommentiert. Denn bei minus sieben Grad Celsius wurde für den mit Firestone-Sommereifen bestückten Seat Toledo eine Verzögerung von 6,96 m/s² gemessen – mit Dunlop-Winterpneus wurde demgegenüber eine Verzögerung von 8,00 m/s² bestimmt. Nicht verschwiegen werden sollte allerdings, dass gerade bei diesen konkreten Messungen nicht nur verschiedene Reifenmarken, sondern auch unterschiedliche Reifendimensionen (Sommerreifen: 195/65 R15, Winterreifen: 175/80 R14) zum Einsatz gekommen sind. Ob bei noch niedrigeren Temperaturen die Winterreifen in Vorteil kommen, sei bisher allerdings noch nicht überprüft worden. Dafür seien gegebenenfalls weitere Versuche vonnöten. Laut den Autoren der Studie fanden acht der 15 ausgewerteten Versuchspaare auf feuchter oder nasser Fahrbahn statt. „Bei sechs dieser Tests waren die Winterreifen besser. Ob sich hieraus ableiten lässt, dass Winterreifen auf kalten nassen Fahrbahnen den Sommerreifen tendenziell überlegen sind, könnte ebenfalls nur mit weiteren Versuchen geklärt werden“, sagen sie. Hinsichtlich der gemessenen Verzögerung deutlich besser als mit einem Sommerreifen lag die Bremsung mit einem Winterreifenmodell bei der tiefsten Fahrbahntemperatur der ganzen Versuchsreihe.

Doch abgesehen davon, dass weitere Messungen den vermuteten Vorteil von Winterreifen zu tieferen Temperaturen hin belegen könnten, und der These, dass Winterreifen zwischen etwa null und plus sieben Grad nicht zwangsläufig besser bremsen als ihre Pendants für die warmen Monate des Jahres: Welche Empfehlung für Deutschlands Autofahrer leiten die Autoren der Studie – basierend auf ihren Messergebnissen – denn nun ganz konkret ab? Sollten ihrer Meinung nach in der kalten Jahreszeit Winterreifen aufgezogen werden oder nicht? „Die Frage kann nur in Abhängigkeit von Wohnort und Fahrgewohnheiten beantwortet werden. Wer zum Beispiel im Allgäu wohnt und auch im Winter regelmäßig über Land fährt, würde mit dem Verzicht auf Winterreifen fahrlässig handeln. Ein Hamburger aber, der sich fast nur in der Stadt bewegt und an den wenigen Tagen mit Schnee oder Eis ohnehin die öffentlichen Verkehrsmittel bevorzugt, braucht keine Winterreifen. Im Gegenteil: Möglicherweise wäre er mit Winterreifen sogar unsicherer unterwegs – nämlich mit gegenüber der Sommerbereifung unnötig verlängertem Bremsweg“, heißt es dazu in der Zeitschrift VKU – Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik.

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