Von den Russen lernen …

Die schon jahrelang anhaltende Spekulation um den kleinen Reifenhersteller Vredestein ist beendet. Beobachter gingen schon seit Jahren davon aus, dass das holländische Unternehmen, obwohl es sich in den letzten zehn Jahren bravourös geschlagen hat, einen Partner finden bzw. unter das Dach eines größeren Reifenherstellers flüchten müsse, um sich im rauen Wind des Wettbewerbs auf den Reifenmärkten der Welt behaupten zu können. Als Interessenten kamen erst die US-Firma Cooper, danach japanische und koreanische Reifenhersteller in Verdacht. Dass es nun die russische Unternehmensgruppe Amtel wurde, die Vredestein im Mai 2005 akquirierte und den Spieß umdrehte, müssen viele Holländer erst auch innerlich noch akzeptieren, denn bis dahin hatten stets westeuropäische oder amerikanische Unternehmen die arm gebliebenen osteuropäischen Wettbewerber für kleines Geld aufgekauft.

Die nunmehr ins Leben gerufene Amtel-Vredestein Group hat die Moskau Motor Show im August diesen Jahres genutzt, um sich im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz rund hundert Journalisten aus aller Welt zu präsentieren. Dabei dürften die Russen ihre eigene Beschreibung des neuen Reifenkonzerns als „einen der größten europäischen Pkw-Reifenhersteller“ nicht gerade in zurückhaltender Bescheidenheit vorgenommen haben. Warum auch! Und noch aussagekräftiger formulierte Vredestein-Chef Rob Oudshoorn das Geschehen, als er nicht allein eine Win-win-Situation beschwor, sondern diese zu einer Win-win-win-Situation erhob. Als Sieger sieht Oudshoorn das Unternehmen Vredestein, dem nun dank Amtel die Tore Richtung Osteuropa geöffnet worden sind, das neue Märkte bekommt, aber auch Zugang zu günstigeren Produktionsmöglichkeiten, ohne welche Brot-und-Butter-Reifen kaum noch Gewinn bringend vermarktet werden können. Gewonnen hat natürlich auch Amtel, indem dieses Unternehmen nun besseren Zugang zu den Märkten in ganz Europa finden sollte und sich zudem auf die moderne Reifentechnologie von Vredestein stützen und damit auch die russischen Werke auf den hohen westeuropäischen Standard schneller als im Alleingang möglich bringen kann. Last, but not least sandte Oudshoorn den dritten Siegern, den bisherigen Gesellschaftern von Vredestein, freundliche Grüße hinterher, da diese sich auch als Gewinner fühlen dürften. So elegant kann man ausdrücken, dass die Russen einen herausragend guten Preis bezahlten, um Vredestein unter das Dach holen zu können. Und so ist nichts dagegen zu sagen, dass alle, die es angeht, mit dem Deal letztlich äußerst zufrieden sein können. Nun müssen sich nur noch die Erwartungen erfüllen, die von den russischen und den holländischen Managern wechselseitig erhoben werden, um das Glück vollkommen werden zu lassen. Mit anderen Worten: Westliche und östliche Unternehmenskulturen müssen harmonisch aufeinander abgestimmt werden und das wird nicht ganz so einfach sein.

Russischen Verbrauchern ist natürlich bestens bekannt, dass nahezu alle russischen Produkte gegenüber Importen noch qualitative Nachteile haben. Zudem setzen russische Autofahrer auf das, worauf sie auch nach westlichen Maßstäben stets setzen sollten: auf Image, auf Marken. Die Erfolgsgeschichte der Importmarken wird derzeit aber noch durch hohe Zölle stark eingebremst. 20 Prozent Zolleinfuhren sind für Allerweltsreifen auf Allerweltsautos kaum zu verkraften, insofern „greifen“ die Zölle auch, denn sie schützen die einheimische Reifenindustrie, die sich derzeit ansonsten kaum als wettbewerbsfähig erweisen dürfte. Wer sich jedoch ein Fahrzeug leisten kann, das Ultra-High-Performance-Reifen der höchsten Geschwindigkeitskategorien benötigt, lässt sich durch den Zoll sicher nicht davon abbringen, sich für eine westeuropäische Reifenmarke zu entscheiden.

Oudshoorn gelang es während der Pressekonferenz ausgezeichnet, erst gar keinen Zweifel an der Klasse der Reifenmarke Vredestein entstehen zu lassen, obwohl sein Unternehmen doch eher zu den Kleinen der Branche zu zählen ist. Vorgestellt wurde die gesamte „Trac-Palette“, angefangen beim Ultrac, über den Sportrac 2, den Wintrac Xtreme bis zum Wintrac 4 Xtreme. Und im Mittelpunkt steht stets ein Mann, wenn es um Produktvorstellungen bei Vredestein geht: Giorgetto Giugiaro, der italienische Star-Designer. Leider konnte er selbst, obwohl angekündigt, wegen dringender familiärer Ereignisse nicht an der Pressekonferenz teilnehmen, sondern musste sich von einem seiner Spitzenmanager vertreten lassen.

Oudshoorn, nunmehr fast zehn Jahre schon Vredesteins Reifenboss, hatte dem Unternehmen eine völlig neue Richtung vorgegeben. Es gab keine Erstausrüstungsgeschäfte mehr, Vredestein-Reifen suchten sich ihren Platz ausschließlich in Ersatzmärkten. Und Vredestein konzentrierte sich mehr und mehr auf hochpreisige Segmente, mit denen selbst ein kleiner Reifenhersteller profitabel bleiben kann. Der Rest wurde durch Off Takes produziert. Schritt für Schritt gelang es Vredestein zudem, die Preispositionen im Markt zu verbessern, wenngleich das Unternehmen noch weit davon entfernt ist, wirklich zu den teuren Anbietern zu gehören oder auch nur zu den Anbietern des gehobenen Niveaus. Doch die erzielten Fortschritte sind unübersehbar und sollen erst gar nicht bekrittelt werden.

Da Holland nun alles andere als ein Billiglohnland ist, war es um so dringender, die Fabrik in Enschede so weit wie möglich zu rationalisieren und zu automatisieren. Und in dieser Hinsicht hat der Reifenhersteller gemeinsam mit Zulieferern ein paar Akzente setzen können. Dank einer Reihe im Einsatz befindlicher Vollautomaten garantiert die Enschede-Produktion nun eine hohe und stabile Qualität zu attraktiven Kosten. Allerdings gilt das nur für das wirklich obere Segment, alle anderen Reifen können nicht kostengünstig genug hergestellt werden, weil der Markt einfach nicht bereit ist, bessere Preise für Brot-und-Butter-Reifen zuzulassen. Großes Potenzial sieht Oudshoorn nun für Vredestein-Reifen der oberen Kategorie in Russland. Und mit der weiteren Entwicklung des Landes wächst auch das Potenzial. In dem Maße, in dem es nun möglichst schnell gelingt, Massengrößen unter dem Markennamen Vredestein in Russland günstig produzieren zu können, wird Vredestein ein umso ernster zu nehmender Wettbewerber auch auf umkämpften westeuropäischen Märkten in diesen Segmenten werden können.

Diese Hoffnungen beschrieb Alexey Gurin, General Manager der Amtel Vredestein Group. Natürlich werde man ab sofort Vredestein-Reifen nach Russland importieren und über das der Amtel Group zur Verfügung stehende Distributionsnetzwerk vermarkten. Vor allem aber will Gurin dafür sorgen, dass die russischen Fabriken blitzschnell in die Lage versetzt werden, Vredestein-Reifen ohne jeden qualitativen Abstrich herstellen zu können. Der Start wird in Kirov, dem so bezeichneten „Amtel-Povolozhye Komplex“ bereits in wenigen Wochen erfolgen können mit noch sehr überschaubaren Stückzahlen. Im nächsten Schritt wird die Produktion in Voronezh, „Amtel-Chernozemye“, erfolgen. Dort ist nach Gurins Worten bereits eine Produktion angelaufen, die erstmalig zulässt, auch in Russland Premiumreifen zu produzieren, die die Qualitätsstandards der Enschede-Fabrik erfüllen.

Ist Vredestein schon unter Oudshoorn zunehmend zu einer von Marketing getriebenen Firma geworden, so gilt das auch für Amtel. Nach Meinung russischer Beobachter versteht es Amtel am besten von allen einheimischen Reifenherstellern, Marketinggesichtspunkte in den Mittelpunkt zu stellen. Eine weitere gute Voraussetzung dafür, dass sich Holländer und Russen verstehen werden.

Amtel ist ohne ihren indisch-russischen Chef Sudhir Gupta nicht denkbar. Er gründete das Unternehmen im Jahr 1990 und ist bis heute Mehrheitsaktionär des Konzerns und Aufsichtsratsvorsitzender. Gupta ist Naturwissenschaftler, studierte am Nehru College in Neu Delhi und später in Moskau, wo er dann blieb. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ importierte er Rohstoffe nach Russland, die von seinen Abnehmern zum Beispiel mit Reifenlieferungen bezahlt wurden. Seit wenigen Jahren konzentriert sich die Amtel-Gruppe voll und ganz auf ihr Kerngeschäft Reifen, in dem sie weiter wachsen und eine noch größere Rolle in Russland wie in Europa spielen will. In asiatischen Wirtschaftsmagazinen wurde Gupta gerade noch im August als ein Anerkennung verdienender Oligarch beschrieben. Doch Anerkennung kommt selten allein, es gilt hier wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen: viel Feind, viel Ehr! Gupta muss bis zu acht Bodyguards beschäftigen. Nachdem ihm vor wenigen Jahren ein paar mafiose Gestalten bedenklich nahe gekommen waren, lebt seine Familie in Singapur. Aus Sicherheitsgründen war nicht bekannt, ob Gupta persönlich erscheinen würde. Zur Abendveranstaltung jedenfalls erschien er und mischte sich zum Smalltalk unter die Gäste.

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