„Der Reifen ist das am meisten unterschätzte Hightech-Produkt“

Nachdem der vom Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e.V. (IPF) und dem Institut für Verbrennungsmotoren und Kraftfahrzeuge (IVK) der Technischen Universität Dresden ursprünglich schon für das vergangene Jahr geplante Workshop „Tires: Trends and Future Perspectives“ zunächst verschoben werden musste, konnte Gastgeber Prof. Dr. Gert Heinrich im Rahmen der verspäteten Premierenveranstaltung Anfang Juni rund 30 Teilnehmer aus dem Bereich Forschung und Entwicklung bzw. dem Management der Automobil-/Zulieferbranche begrüßen. „Das ist die erste Veranstaltung dieser Art hier bei uns in Dresden und gewissermaßen so etwas wie ein Versuchsballon“, so Heinrich, was darauf hindeutet, dass es durchaus eine Forsetzung geben könnte. In insgesamt sechs Vorträgen – ein Beitrag über neue Testmethoden für Notlaufreifen musste kurzfristig entfallen – ging es bei dem Workshop vor allem darum, wie mittels neuer Ergebnisse aus der Materialforschung und innovativer Ansätze bei der Modellierung von Reifeneigenschaften die Performance der schwarzen runden Gummis in Zukunft weiter verbessert werden kann.

„Der Reifen ist die Basis für alles, was man mit einem Auto machen kann“, sagte Heinrich Huinink, bis 2002 Vizepräsident Strategische Technologien im Conti-Konzern. Grund genug für ihn, entsprechend der Philosophie des Konzerns den Reifen eher als Systemkomponente denn als einzelnes Zubehörprodukt zu beleuchten. „Reifen werden oft nur als Accessoire gesehen und nicht als eine der Hauptkomponenten eines Autos. Der Reifen ist das am meisten unterschätzte Hightech-Produkt“, so Huinink. „Kontur und Mischung des Reifens beeinflussen zum Beispiel in erheblichem Maße etwa die Bodendruckverteilung oder das Nassbremsverhalten. Im Verbund mit und speziell abgestimmt auf elektronische Systeme wie ABS und ESP lassen sich zusätzliche Vorteile in puncto Fahrsicherheit erzielen“, erläuterte er mehr oder weniger den Conti-Ansatz beim Projekt „Reduzierter Anhalteweg“, aus dem unter anderem das so genannte „30-Meter-Auto“ resultierte (vgl. bereits NEUE REIFENZEITUNG 1/2001).

Insofern ist der Aufwand nachvollziehbar, der in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen betrieben wird, um die Eigenschaften des „schwarzen Goldes“ weiter zu verbessern. So wurden im Rahmen des Workshops bespielsweise Untersuchungen an Laufflächenmischungen vorgestellt, die letztendlich eine Berurteilung der jeweiligen Compounds im Hinblick auf die zu erwartenten Rollwiderstandseigenschaften erlauben sollen. In mehr oder weniger die gleiche Richtung zielten die von den weiteren Referenten präsentierten Arbeiten: Bei allen stand das Bemühen im Vordergrund, durch Modellbildung bzw. Simulationen den Einfluss unterschiedlicher Konstruktionsparameter eines Reifens möglichst schon vor dem Bau eines ersten Prototypens vorhersagen zu können. Auf diesem Wege lassen sich nämlich nicht nur die Entwicklungszeiten für neue Produkte, sondern auch die damit verbundenen Kosten reduzieren. In Zeiten immer kürzer werdender Produktzyklen und knapperer Budgets sicherlich kein ganz unwichtiges Thema.

Was die Sache dabei nicht gerade einfacher macht ist die Tatsache, dass in einem Reifen eine Vielzahl von Materialien verbaut werden, die in ihrer Summe die Eigenschaften der Pneus und darüber hinaus gehend das Fahrverhalten des gesamten Fahrzeugs beeinflussen. Aber nicht nur der Reifen selbst gerät dabei ins Blickfeld der Entwickler, auch die Wechselwirkungen zwischen der Fahrbahn und dem Pneu müssen berücksichtigt werden. So rückte beipsielsweise Dr. Stephan Westermann vom Goodyear Technical Center Luxemburg (GTCL) in Dresden den Reifen-Fahrbahn-Kontakt in den Vordergrund seines Vortrages. „Im Allgemeinen wird davon gesprochen, dass die Kontaktfläche zwischen Reifen und Straße etwa der einer Postkarte entspricht. Makroskopisch ist das auch korrekt, doch auf mikroskopischer Ebene liegt die Kontaktfläche eher in der Größenordnung von nur etwa einem Quadtratzentimeter“, so Westermann. Man müsse halt nur genau genug – also mit einer immer höheren Vergrößerung – hinsehen, um die mikroskopisch kleinen Rauigkeiten an der Reifen- bzw. Fahrbahnoberfläche erkennen zu können, die einen intensiveren Kontakt beider Partner verhinderten.

Westermann konnte unter Zuhilfenahme des so genannten Persson-Modells theoretische errechnete Kurven gut mit gemessenen Daten für den Reibwert in Übereinstimmung bringen, sodass in Zukunft wohl tatsächlich eher von „Briefmarken statt Postkarten“ auszugehen ist. Denn aus diesem Input abgeleitete Vorhersagen etwa zur Bremswegänderung ein und desselben Reifen auf zwei unterschiedlichen Fahrbahnoberflächen haben sich seinen Worten zufolge ebenfalls im Fahrversuch verifizieren lassen. Welche Rolle der Reifen-Fahrbahn-Kontakt außerdem noch spielt, ergänzte Dr. Frank Gauterin, Chef des Profit Centers NVH Engineering beim Reifenhersteller Continental. Denn er zeigte auf, inwiefern dadurch die von beiden Partnern ausgehenden Geräuschemissionen beeinflusst werden. In diesem Bereich kann seinen Aussagen zufolge mittlerweile die „virtuelle Reifenoptimierung“ durch Finite-Elemente-Berechnungen ebenfalls helfen, die von Reifen ausgehenden Rollgeräusche zu minimieren.

„Wie schon Mitte des 19. Jahrhunderts spielen Luftreifen heute erneut eine wichtige Rolle bei der Lösung der Verkehrsgeräuschprobleme“, zeigte sich Gauterin überzeugt. Müssen sie wohl auch, denn gegenwärtig – so Gauterin – werde an einem neuen Geräuschtypprüfverfahren für Kraftfahrzeuge gearbeitet, das die Basis für weitere Geräuschminderungen bilden soll. Insofern könnte das Thema Reifen-Fahrbahn-Geräusch in Zukunft wieder stärker in den Vordergrund rücken. Aber interessante technologische Fragestellungen rund um den Reifen gibt es eigentlich auch sonst noch genug, sodass die Chancen unter Umständen gar nicht so schlecht stehen, dass das IPF möglicherweise irgendwann zu einem zweiten Workshop dieser Art nach Dresden einlädt.

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