Europas schwindende Motorsportkultur

Motorsport lebt nicht nur von rasanten Überholmanövern und spannenden Finishes, sondern einen Großteil der Anziehungskraft wird auch durch die „großen Typen“ erzeugt, die für den Sport leben und ohne die es wesentlich langweiliger zugehen würde. Einer dieser Typen ist ohne Frage Pierre Dupasquier. Der Motorsport-Direktor gilt seit 30 Jahren als die treibende Kraft im Hause des Reifenherstellers Michelin und zählt heute in der Formel 1 zu den wenigen, die – obwohl nicht selber Fahrer – regelmäßig vor den Fernsehkameras auftauchen und Rennen kommentieren dürfen. Die NEUE REIFENZEITUNG hatte nun Gelegenheit, den 67-Jährigen zu einem persönlichen Gespräch über die kommende Saison zu treffen.

Der gebürtige Franzose gehört seit langem zum Reisezirkus der Formel 1 und wirkt als die treibende Kraft hinter dem Motorsportengagement des Reifenherstellers, ob Formel 1, Rallye-Sport oder MotoGP – Pierre Dupasquier lebt für alles, was sich rasant auf zwei oder mehr Reifen fortbewegt. Dennoch verbindet man Pierre Dupasquier zunächst mit der Königsklasse des Motorsports, der Formel 1. Und da ist die zurückliegende Saison für Michelin alles andere als glorreich ausgegangen. Von den 18 Rennen konnten Fahrzeuge, die auf den Reifen des einzigen Wettbewerbers Bridgestone unterwegs waren, immerhin 15 für sich entscheiden – das Problem: die Dominanz von Michael Schumacher im Ferrari auf Bridgestone-Reifen. Allerdings muss man zugeben, Michelin-bereifte Fahrer haben am Ende der Saison immerhin die Plätze drei bis zehn eingenommen, nach den beiden alles überragenden Ferrari-Piloten. Ohne diesen Wettbewerb kann sich Dupasquier die Formel 1 allerdings nur schwer vorstellen. „Michelin ist nicht interessiert daran sich an der Formel 1 zu beteiligen, wenn es nur einen Reifenlieferanten gibt“, kommentiert der Motorsport-Direktor Pläne, einen Einheitsreifen für die Formel 1 vorzuschreiben, um Kosten für Reifentests einzusparen und den Rennzirkus insgesamt billiger für die Teams zu machen.

Bereits eine Situation wie in der WRC, der World Rally Championship, bringe ausreichende Konkurrenz mit sich, um das eigentliche Ziel des Motorsportengagements nicht aus den Augen zu verlieren, nämlich die eigenen Reifen zu verbessern. In der WRC, die Mitte November zu Ende ging, werden – mit einer Ausnahme alle Teams von Michelin mit Reifen ausgestattet. In diesem Jahr hat mit Sébastien Loeb auch ein Fahrer auf Michelin gewonnen, in der Saison 2003 allerdings zeigte sich, dass die zahlenmäßige Dominanz in der Rennserie die Weltmeisterkrone nicht sichert; Petter Solberg im Subaru auf Pirelli holte sich den Titel.

Um die eigenen Reifen stetig zu verbessern, so Pierre Dupasquier im Gespräch mit der NEUE REIFENZEITUNG, brauche es den Wettbewerb zwischen wenigstens zwei Herstellern.

Auch ist der gebürtige Franzose nicht der Ansicht, dass es aus der Sicht Michelins eine schlechte Formel 1-Saison gewesen ist. Im Gegenteil. Während sich beim einzigen Wettbewerber alles auf Ferrari ausrichtet, habe Michelin gleich mehrere hochwertige Teams unter Vertrag gehabt (siehe Tabelle). Dies sei ein großer Vorteil, so Dupasquier, denn als Reifenhersteller habe man so viel mehr Möglichkeiten, zu lernen und die Produkte insgesamt zu optimieren. Bei Bridgestone hingegen müsse man nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen, da die anderen Teams neben Ferrari in der laufenden Saison so gut wie keine sportliche Rolle gespielt haben.

Mit der derzeitigen Situation ist Pierre Dupasquier eigentlich sehr zufrieden. Ursprünglich sei der Reifenhersteller in die Formel 1 eingestiegen, „um zu sehen, was passiert“. Damals – Michelin lieferte von 1977 bis 1984 erstmals Reifen in die Formel 1 und dann wieder ab 2001 – sah man den Einstieg als notwendig an, um technologisches Know-how aus dem Motorsport abzweigen zu können; Mitte der 1970er Jahre setzten Radialreifen etwa gerade zu ihrem Siegeszug in Europa an. Motorsport ist also für den französischen Reifenhersteller alles andere als ein kostspieliges Hobby. Vielmehr sollen Entwicklungen vorangetrieben werden und Innovationen umgesetzt werden: „Um das zu tun, brauchen wir den Wettbewerb.“

Aus Sicht von Pierre Dupasquier macht eine Beteiligung Michelins an der Formel 1 also wenig Sinn, wenn lediglich ein einziger Hersteller die Reifen liefern soll, also der berüchtigte „Einheitsreifen“ kommt. Ganz zu schweigen vom Marketing des französischen Reifenherstellers. Bei zwei Herstellern und Lieferanten ist der Reifen ein Thema in der öffentlichen Diskussion, im Fernsehen und in den Zeitungen. Für einen Exklusivlieferanten ist Medienpräsenz viel schwerer zu erzielen, es sei denn, ein geplatzter Reifen beendet vorzeitig das Rennen eines Titelaspiranten. Aber kaum jemand dürfte den Sieg unter solchen Bedingungen auf die Reifen zurückführen, vielmehr dürfte das fahrerische Talent oder das Auto selbst als Erklärung dienen.

Andererseits hat Pierre Dupasquier nichts dagegen, wenn noch ein dritter Reifenhersteller in die Formel 1 eintritt und sein Glück versucht. Dem Vernehmen nach arbeitet der koreanische Reifenhersteller gerade an der Entwicklung eines eigenen Formel 1-Reifens, der ab 2007 (dann werden neue Verträge unterzeichnet) in der Königsklasse des Motorsports eingesetzt werden soll. Ob Kumho technisch und finanziell in der Lage sei, ein Formel 1-Engagement aufzubauen, beantwortet Dupasquier klar und deutlich: „Die Antwort ist ja!“ Kumho sei bereits seit 2000 Exklusivlieferant für die Formel 3 Euroserie, und habe dort wesentliche Erfahrungen in der Entwicklung und dem Bau von Motorsportreifen gemacht. Darauf aufbauend seien die geplanten Investitionen von rund 25 Millionen US-Dollar für dieses Vorhaben nicht unbedeutend, im Gegenteil: Es sei dumm, viel Geld zu verschwenden, sodass Dupasquier durchaus der Meinung ist, die genannte Summe werde für den koreanischen Reifenhersteller ausreichen, um den Einstieg zu finden. „Kumho hat das Potenzial dies zu leisten“, ist sich Michelins Motorsport-Direktor sicher und freut sich über den wachsenden Wettbewerb. Nachvollziehen könne er Kumhos Schritt durchaus, schließlich weiß er um den einzig bedeutenden Unterschied zwischen Formel 1 und Formel 3 aus Sicht eines Marketingmanns: die Formel 1 erreicht ein Millionenpublikum, die Formel 3 fährt (meistens) im Vorprogramm zur DTM.

Andere mögliche Veränderungen, die in naher Zukunft auf den Reifenhersteller zukommen könnten, sieht Pierre Dupasquier eher skeptisch. So etwa die neuen Regeln betreffend die Haltbarkeit der Reifen oder die gefahrene Höchstgeschwindigkeit (Aerodynamik). Ab der kommenden Saison muss ein Satz Reifen für das Qualifying sowie auch für das Rennen halten, also darf während des Rennens nicht mehr gewechselt werden. Es sei zwar technisch kein Problem, haltbarere Reifen herzustellen, so Dupasquier. Nur gehe die Entwicklung in Richtung Lkw-Reifen, witzelt der Franzose; man könne selbst einen Reifen entwickeln, der drei Rennen halte. Außerdem sei gerade die Entwicklung eines Spezialreifens für ganz spezielle äußere Bedingungen und ein spezielles Fahrzeug die große Herausforderung im Reifenbau. Auch die Veränderung des Abtriebs durch vorgeschriebene Anpassungen an der Aerodynamik der Formel 1-Fahrzeuge führe dazu, dass die Reifen verändert werden müssen. In diesem Fall wird die Laufstreifenmischung härter sowie die durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit geringer. Allerdings, so Dupasquier: Man wolle schnellere Reifen machen, nicht langsamere. Wenn die Regeln dies allerdings vorschreiben, werde sich Michelin natürlich anpassen.

Anpassen müssen sich die europäischen Formel 1-Fans vermutlich auch daran, dass die Rennserie immer asiatischer wird. In der vergangenen Saison machte der Rennzirkus erstmals in Shanghai und in Bahrain halt. Unter ökonomischen Gesichtspunkten mache es durchaus Sinn, den Fokus der Vermarktung auf die asiatischen Länder zu legen, so Dupasquiers „persönliche Ansicht“. Europas Märkte seien mittlerweile zu „statisch“: Die große Masse der Menschen hier könnten sich kaum mehr für Motorsport begeistern, und in Shanghai wird Michael Schumacher wie ein Popstar verehrt. In Deutschland etwa hat statistisch gesehen mehr als jeder zweite – Kinder eingeschlossen – ein eigenes Pkw. Viele asiatische Länder hätten diesbezüglich einen großen Nachholebedarf, glaubt Dupasquier. Man könne beim Motorsport sogar einen gewissen Trend Richtung Asien erkennen. Tabakwerbeverbote in Europa tun das ihre. „Es wäre allerdings nicht gut, wenn wir diese ganze Kultur verlieren“, mahnt Michelins Motorsportdirektor, dem insbesondere das zurückgehende Zuschauerinteresse auf den Rennkursen in Europa aufgefallen ist.

Diese Änderungen werden aber kaum die nächste Saison beeinflussen. Der 67-jährige Motorsport-Direktor glaubt nicht wirklich daran, dass Michael Schumacher und Ferrari im kommenden Jahr wesentlich schlechter sein werden als in der laufenden Saison. „Die investieren massiv“ und halten an ihren bisherigen Testgewohnheiten fest, während alle anderen neun Teams sich selbst eine Beschränkung auf 24 Testtage auferlegt haben. Auch für die Saison 2005 gelte: „Sie haben Elemente und die Struktur, um die besten in diesem Spiel zu sein.“ Allerdings will Dupasquier erkennen, dass Michael Schumacher dem Druck eines Rückstands nicht mehr so gut standhält wie noch vor einigen Jahren. Widerstand bekomme ihm nicht besonders, da er bisher eigentlich immer vorneweg fahren konnte. Auf die Frage, ob der Kerpener die diesjährige Saison auch auf Michelin-Reifen gewonnen hätte, antwortet der sympathische Pierre Dupasquier lediglich mit einem breiten Lächeln.

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