Das Widersinnige mit den Winterreifen

Autofahren im Winter wird hauptsächlich durch Angst und Unsicherheit zu einem Risikofaktor und wirke darüber hinaus auch belastend für den Fahrer. Auch reagierten Autofahrer oftmals nicht rational auf die speziellen Anforderungen winterlicher Straßenverhältnisse. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Dieter Ellinghaus und Prof. Dr. Jürgen Steinbrecher in der neuesten Continental-Verkehrsuntersuchung zum Thema „Fahren im Winter“, die jetzt in Hannover auf dem neuen ADAC-Fahrsicherheitszentrum vorgestellt wurde. Auf über 200 Seiten legen die Forscher den Unterschied zwischen objektiven Risiken und subjektiv empfundenen Gefahren dar.

Obwohl die meisten Autobesitzer durchaus Erfahrung mit winterlichen Straßenbedingungen haben, empfinden 85 Prozent das Fahren bei Eis und Schnee als belastend. „Fahren im Winter“, so der Titel der neuesten Continental-Verkehrsuntersuchung, sei zu einem großen Teil ein „mentales Problem von Angst und Unsicherheit“, heißt es in der Studie. Autofahrer reagierten „nur bedingt rational“, wenn es um die Herausforderungen des Winters geht. So befürworte etwa eine große Mehrheit Winterreifen, aber nur jeder Zweite rüstet um.

Dabei gibt es winterliche Risiken über mehr als sechs Monate im Jahr. Im Schnitt ist es in den Hauptstädten der deutschen Bundesländer an rund 60 Tagen richtig frostig – mit der Gefahr von Eis, Schnee und Raureif. Dann steigt die Zahl der Unfälle – offiziell in drei von vier Fällen als Folge unangepasster Geschwindigkeit. Das wiederum, so die beiden Verkehrsforscher Dr. Dieter Ellinghaus und Professor Jürgen Steinbrecher, liege an der „verzögerten Anpassung der Autofahrer an veränderte Straßen- und Wetterbedingungen“. Die meisten Unfälle ereignen sich zu Beginn von Glätteperioden; je länger diese dauern, desto mehr nähern sich die Unfallzahlen den Durchschnittswerten.

Ellinghaus und Steinbrecher konzentrieren sich in der 29. Continental-Verkehrsuntersuchung, die bisher als Uniroyal-Verkehrsuntersuchung bekannt war – nicht nur auf die objektiven Risiken, sondern auch auf die subjektiv empfundenen Gefahren beim Fahren im Winter. Dabei spiele eine besonders wichtige Rolle, ob Autofahrer bereits Erfahrung mit Eis und Schnee haben. Fast drei Viertel aller Befragten meinten, ausreichende Erfahrungen mit winterglatten Fahrbahnen gesammelt zu haben. Und ein Drittel ist schon einmal wegen Schnee oder Eis mehr als zwei Stunden lang mit dem Auto stecken geblieben. „Derartige Situationen“, schreiben die Autoren, „sind massiv angstbesetzt und gelten als außerordentlich belastend.“

Generell attestieren die Forscher den Autofahrern, dass Eis und Schnee ein breites Spektrum von Gefühlen auslösen kann – vom Vergnügen, durch winterlich verschneite Landschaften zu fahren, bis zu Angstzuständen, wenn Eisregen die Straßen unbefahrbar macht. Dann fühlen sich 85 Prozent der Autofahrer außerordentlich unwohl. Frauen empfinden bei solchen winterlichen Bedingungen mehr Unbehagen als Männer. Je weniger persönliche Erfahrung man mit winterlichen Straßen hat, umso mehr Angst lösen sie aus.

Wie wichtig Erfahrung beim Autofahren im Winter ist, zeigt auch das Fahrverhalten bei Eis- und Reifglätte. Einerseits haben die meisten Schwierigkeiten, eisglatte Straßen rechtzeitig zu erkennen; andererseits wird Reifglätte in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt.

Zum Thema Reifen fanden die Verkehrsforscher heraus, dass Wunsch und Wirklichkeit der Autofahrer weit auseinander liegen können: 80 Prozent von ihnen sind der Meinung, dass Winterreifen „hilfreich und nützlich“, ja sogar „unverzichtbar“ seien. Aber nur knapp die Hälfte hat im vergangenen Winter auf Winterreifen umgerüstet. Zum Thema Winterreifenpflicht waren die Teilnehmer an der Podiumsdiskussion, in dessen Rahmen die Untersuchung vorgestellt wurde, einer Meinung: Eine Umrüstquote von 100 Prozent bei Pkw und Lkw sei überaus begrüßenswert. Nur ob dafür eine Pflicht eingeführt werden soll, oder ob Aufklärungsarbeit, wie sie etwa die Initiative PRO Winterreifen seit Jahren leistet, das bessere Mittel sei, blieb offen. So ist Ellinghaus, ohne sich explizit für eine Pflicht auszusprechen, der Ansicht, dass ein „ähnlicher Effekt bei Winterreifen möglich“ sei, wie wir dies bei der Einführung der Gurtpflicht bereits erlebt haben. Die Unterstützung einer Pflicht sei ja bereits überaus hoch. Prof. Manfred Bandmann, Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrates und in dieser Funktion Mitgründer der Initiative PRO Winterreifen, verfolgt nicht das Ziel einer Pflicht: „Das mit der Pflicht ist eine reflexartige deutsche Reaktion.“ Stattdessen stellt Bandmann Aufklärung in den Vordergrund seiner Arbeit – die Initiative wolle für mehr Sicherheitsbewusstsein beim Autofahrer werben. Moderator der Veranstaltung und neuer Leiter Öffentlichkeitsarbeit Reifen bei der Continental AG, Rainer Strang, wies darüber hinaus noch einmal auf die praktischen Probleme bei der Einführung einer Winterreifenpflicht hin: „Der Gesetzgeber tut sich schwer, so etwas in eine praktikable Lösung umzusetzen.“ Dennoch wird im kommenden Jahr in der neuen Fassung der Straßenverkehrsordnung (StVO) ein geänderter Passus enthalten sein, der speziell auf die Notwendigkeit von witterungsgerechter Ausrüstung (im Winter) hinweist.

Mit einer entsprechenden Ausrüstung befasst sich auch Dr. Burkhard Wies. Der Leiter der Pkw-Reifenentwicklung bei Continental sieht noch durchaus Potenzial für die technologische Verbesserung von Winterreifen. Wie Dr. Wies im Interview mit der NEUE REIFENZEITUNG erklärt, betreibe der Reifenhersteller derzeit auf mehreren Gebieten Grundlagenforschung und binde dabei insbesondere seine Zulieferer über so genannte Joint Development Agreements (JDAs) ein. Die aktuelle Reifenforschung gehe in drei verschiedene Richtungen. So laufe derzeit ein Projekt zum so genannten „adaptiven Gummi“, erklärt der Entwicklungschef, also Gummi, dessen Steifigkeit sich mit der Temperatur verändert: bei hohen Lufttemperaturen wird das Gummi härter, bei niedrigen Temperaturen weicher. Das Geheimnis liege in den verwandten nicht-aromatischen Ölen, die entsprechende Materialeigenschaften haben. Bei diesem Projekt gehe es also um die „Überwindung von Grenzen“ und der weitest gehenden Auflösung des Zielkonflikts zwischen Sommer- und Winterreifen. „Das Thema Material/Materialforschung haben wir wieder richtig belegt“, so Wies, und deutet baldige Innovationen in den bei Continental genutzten Laufflächenmischungen an. Auch werde derzeit mit speziell ummanteltem Silica getestet. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, an dem im Moment in Hannover gearbeitet wird, sei die Profilgestaltung. Ein Winterreifenthema der Zukunft könnte der so genannte „Sipe-Slick“ sein, also ein Reifen, der lediglich Lamellen besitzt aber keine Profilblöcke. Ebenfalls arbeite Conti an der Verbesserung seiner Winterreifen durch einen veränderten Unterbau.

Vorurteile zum Thema Winterreifen sind allerdings langlebig, denn trotz der zum Teil bahnbrechenden Entwicklungen in der Technik der Winterreifen haben viele Fahrer bisher ihre Vorurteile gegenüber Winterreifen nicht verändert. So vertritt ein Viertel der für die Studie Befragten die Meinung, dass „Winterreifen bei Nässe unsicherer sind als Sommerreifen“. Die Skepsis teilen übrigens die Tschechen mit den Deutschen. Bei den Franzosen ist diese skeptische Meinung sogar noch häufiger vertreten: 36 Prozent gehen von einer verminderten Leistungsfähigkeit von Winterreifen bei Nässe aus.

Fast jeder Zweite ist darüber hinaus der Meinung, dass Winterreifen erst dann ihre Wirkung voll entfalten, wenn die Temperaturen unter null gefallen sind. In Italien sind es 46 Prozent der Befragten, in Tschechien 49 Prozent und in Frankreich sogar knapp 90 Prozent, die von dieser falschen Voraussetzung ausgehen.

Wie hartnäckig Vorurteile sein können, erfuhren die Verkehrsforscher bei der Frage nach dem Einsatz von Winterreifen. Zwar waren 80 Prozent aller Befragten davon überzeugt, dass Winterreifen „hilfreich und nützlich“, ja sogar „unverzichtbar“ seien. Aber nur die Hälfte hat tatsächlich im letzten Winter auf Winterreifen umgerüstet.

Fehlende Risikowahrnehmung

Gefahren drohen auf deutschen Straßen vor allem dann, wenn das Wetter sich ändert – und das ist in einem Land mit immerhin vier Klimazonen häufig der Fall. Von Oktober bis März muss mit winterlichen Risiken gerechnet werden. Bei Beobachtungsfahrten auf deutschen Autobahnen konnten Ellinghaus und Steinbrecher feststellen: „Es besteht eine ausgesprochene Tendenz, das eigene gewählte Geschwindigkeitsniveau beizubehalten, selbst dann noch, wenn bereits Schnee auf der Straße liegt.“ Die Risiken werden noch dadurch verstärkt, dass einzelne Autofahrer bei Eis und Schnee besonders vorsichtig und zögerlich fahren, während andere durchaus schneller vorankommen wollen.

Das Unfallgeschehen verlagert sich bei winterglatten Straßen weitgehend auf Landstraßen, und von Unfällen betroffen sind vor allem Autofahrer. Rad- und Motorradfahrer sind im Winter kaum noch unterwegs. Im Winter 2002 beispielsweise kamen 85 Prozent der Verkehrsopfer auf winterglatten Straßen im Pkw zu Tode.

Die Autoren zogen drei weitere europäische Länder zum Vergleich hinzu: Frankreich, Italien und die Tschechische Republik. Es zeigte sich, dass tatsächlich nur Tschechien ähnliche klimatische Bedingungen und demzufolge ähnliche Verkehrsrisiken wie Deutschland kennt. Frankreich erlebt winterliche Straßenverhältnisse fast nur in gebirgigen Gegenden; Italien vor allem im Norden, wobei dort Nebel als größtes Risiko gilt.

Aber das winterliche Chaos hat auch eine gute Seite: Wie die Befragungsergebnisse zeigen, geht mehr als ein Drittel der deutschen Pkw-Fahrer davon aus, dass angesichts von Eis und Schnee mehr Rücksicht und mehr Solidarität unter den Autofahrern geübt werden. Schlussfolgerung der Forscher: „Insgesamt wird deutlich, dass winterliche Straßen- und Fahrbedingungen eine ausgeprägte emotionale Komponente haben, die sich nicht nur in Ängsten und Befürchtungen zeigt, sondern die auch das Miteinander beeinflusst.“ Die Autoren der Untersuchung weiter: „Das Verhalten der Kraftfahrer gegenüber winterlichen Fahrbedingungen ist durch eine gewisse Sorglosigkeit gekennzeichnet.“

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